Schulen in der Corona-Krise Nicht offen, nicht geschlossen

Die Schulen blieben formal geöffnet – und natürlich die Fenster. Zum Schutz vor Corona. Doch in der Realität, sagen Schulleiter, habe es durch Quarantänen eben doch viele leere Klassen gegeben. Foto: dpa/Sebastian Gollnow

Der letzte Schultag ist angebrochen. Seit den Sommerferien waren die Schulen immer offen, obwohl die Forderung nach einem Lockdown nie verhallt ist. Manche Schulleiter glauben, dass es einen sinnvollen Mittelweg gibt.

 
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Jena - Tatsächlich, man muss sie nur aufdrücken, die schwere Tür am Eingang dieser Schule. Dann einen Schritt ins Gebäude hinein setzen und schon kann man feststellen, dass die Politik eines ihrer Versprechen gehalten hat; ganz unabhängig davon, für wie sinnvoll oder sinnlos man dieses Versprechen hält.

Diese Schule, die irgendwo in Jena steht, ist offen. Jedenfalls das Schulgebäude. Wie die allermeisten anderen Schulen in Deutschland.

Nur in Einzelfällen sind in den vergangenen Monaten Schulen komplett geschlossen worden, weil es dermaßen viele Corona-Infektionen gab, dass an ihrer vorübergehenden Stilllegung kein Weg vorbeiführte. In wohl keinem anderen Bundesland aber ist das Versprechen der deutschen Kultusminister, es werde keine generellen Schulschließungen mehr geben, so exzessiv verfolgt worden wie in Thüringen.

In keiner anderen thüringischen Stadt allerdings hadert man mit diesem Versprechen so sehr wie in Jena. Es ist deshalb kein Zufall, dass der Bürgermeister der Stadt, Christian Gerlitz (SPD), kaum über die Türschwelle dieser Schule getreten ist und schon von den Gefahren spricht, die durch die Corona-Variante Omikron drohen und er auf die extrem hohen Inzidenzen verweist, die bei Kindern und Jugendlichen seit Monaten schon zu beobachten sind.

Aktuell, sagt Gerlitz, liege die Inzidenz bei jungen Menschen in Jena deutlich oberhalb der Marke von 2000 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohnern innerhalb einer Woche. Einen kurzen, harten Lockdown, bei dem auch Schulen und Kindergärten komplett geschlossen würden, um die Krankenhäuser zu entlasten – Gerlitz kann sich das nicht nur vorstellen, er hält es für für notwendig. Ganz anders freilich als Thüringens Bildungsminister Helmut Holter (Linke), der sich in den vergangenen Monaten in dieser Frage auch von seiner vor wenigen Tagen geschassten Staatssekretärin Julia Heesen treiben ließ.

Die Diskussion um offene oder geschlossene Schulen ist zuletzt in der Regel genau so geführt worden: Auf der einen Seite diejenigen, die für offene Schulen plädieren, auf der anderen Seite diejenigen, die sie im Zuge eines großen Lockdowns schließen wollen.

In einem der oberen Stockwerke dieser Schule nun sitzen zwei Menschen, die viele Dinge aus dem Schulalltag erzählen, die sich zu dieser einen Aussage verdichten lassen: Das eine ist ebenso wie das andere vor allem Theorie. Diese zwei Menschen – ein Mann und eine Frau – leiten Schulen in Jena.

Denn einerseits bedeuten offene Schultüren ganz offensichtlich noch lange nicht, dass Schulen auch im umfassenden Sinn offen sind. Immerhin, sagen die Schulleiterin und der Schulleiter, lebten Schüler, Eltern und Lehrer seit Monaten einen Schulalltag, der nur wenig mit dem Alltag vor der Pandemie vergleichbar sei. Regelmäßig seien Schüler in Quarantäne, Lehrer bisweilen auch. Und diesen Betroffenen nützen offene Schulen gar nichts, weil sie sie nicht betreten dürfen. Die Lehrer, sagt der Schulleiter, müssten die gleiche Unterrichtsstunde inzwischen mehrfach vorbereiten, halten, nachbereiten – für Schüler im Klassenraum, für Schüler, die zu Hause lernen, für leistungsmäßig durchschnittliche, lernschwache, lernstarke Schüler.

Am Ende der Kräfte

Das hinterlässt Spuren. Beim Personal. „Meine Kollegen sind zu einem Großteil am Ende ihrer Kräfte, die können nicht mehr“, sagt der Schulleiter. Die Schulleiterin nickt, obwohl sie glaubt, dass ihre Schule bislang „noch vergleichsweise gut“ durch die Pandemie gekommen sei. „Vielleicht haben wir da auch nur Glück gehabt“, sagt sie. Wobei, was ist schon Glück, unter diesen Bedingungen? Etwa die Hälfte der Klassen ihrer Schule, berichtet die Schulleiterin, sei seit Ausbruch der Pandemie von Quarantäne-Anordnungen betroffen gewesen. „Auch die Eltern können nicht mehr.“

Und das hat Konsequenzen für das , was an den Schulen mit den offenen Türen gelehrt und gelernt wird. Die Vermittlung von Fachwissen, sagen der Schulleiter und die Schulleiterin, habe längst nicht mehr oberste Priorität. In vielen Fächern seien die Schüler nicht auf dem Fachniveau, auf dem sie eigentlich sein müssten, trotz Schulgebäuden, die sich ganz einfach betreten lassen. „Es geht inzwischen vor allem um die soziale Entwicklung der Kinder“, sagt die Schulleiterin. Die Pandemie habe ihnen bereits zwei Jahre ihrer Kindheit geraubt, was viel schwerer wiege als der Verlust von zwei Jahren eines Erwachsenenlebens.

Andererseits aber würden wohl auch geschlossene Schulen nicht zu dem Ergebnis führen, das sich die Lockdown-Befürworter erhoffen. In der Theorie, sagen die beiden Pädagogen, würden sie einen kurzen, harten Lockdown mit umfassenden Schul- und Kitaschließungen befürworten. Aus der Hoffnung heraus, so aus der Dauerspirale von Präsenzunterricht, Quarantäne, Distanz- und Wechselunterricht ausbrechen zu können. Doch in der Praxis werde die Zahl der Kontakte so nicht drastisch sinken.

Offiziell geschlossene Schulen würden nur dazu führen, dass sich Eltern einen Anspruch auf Notbetreuung ihrer Kinder organisierten, wie im bislang letzten Winterlockdown, sagt die Schulleiterin. Bei ihr hätten damals etwa 75 Prozent der Kinder in der Notbetreuung gesessen. Und ein Zurück zu den ganz strengen Notbetreuungsregeln wie im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 gebe es nicht. „Damals waren wir alle total geschockt und bereit, ganz strenge Vorgaben zu akzeptieren“, sagt die Schulleiterin.

Nach fast zwei Jahren Corona, angesichts all der Anstrengungen, die diese Zeit für Familien bedeute, gebe es diese Bereitschaft nicht mehr, sagt sie. Schon mehrfach habe sie beobachtet, dass Schüler unterschiedlicher Familien, die sich in den Schulen mit Maske und Abstand begegnet seien, nach dem Unterricht vom Vater einer Familie abgeholt worden seien, um dann von ihm am Nachmittag gemeinsam betreut zu werden – ganz sicher ohne Maske, ohne Abstand. „Ich sage Ihnen, was passieren würde, wenn wir die Schulen jetzt schließen“, sagt der Schulleiter. „Die treffen sich auf dem Spielplatz.“

Mehr Eigenverantwortung

Also weiter so wie in den vergangenen Monaten? Immer weiter bis zur totalen Erschöpfung der Lehrer, Schüler, Eltern, bis zur Herdenimmunität, erreicht durch die fortschreitende Durchseuchung vor allem der Kleinsten und Kleinen?

So unterschiedliche Vorstellungen die beiden Pädagogen und Gerlitz auch zu einem kurzen, harten Lockdown haben, so einig sind sich die drei, dass deutlich mehr Eigenverantwortung der Schulen und der Kommunen der Weg wären, um aus der Diskussion um offene oder geschlossene Schulen auszubrechen. Und – vor allem der Schulleiter betont das – das Aufheben der Präsenzpflicht. Gleich am Beginn des neuen Jahres. Ganz anders als 2021.

Im zu Ende gehenden Jahr seien die Lehrer durch das Thüringer Bildungsministerium wie bloße Befehlsempfänger behandelt worden, sagen die Schulleiterin und der Schulleiter. In den Worten des Letzteren: „Das war so, als wären wir Soldaten und Holter, als General vorne dran, hat gesagt, wo es lang geht.“ Auf diese Weise sei es den Schulen zum Beispiel durch das Ministerium ausdrücklich verbotenen worden, Hygienekonzepte zu erlassen, die strenger hätten sein sollen, als ein vom Ministerium schon 2020 entworfenes Stufenpapier. Staatssekretärin Heesen, erzählt die Schulleiterin, habe den Schulen in einer ihrer ersten Videokonferenzen mit Vertretern von Schulleitungen zudem „direkt einen Maulkorb umgehängt“ und erklärt, über Probleme solle keinesfalls mit der Presse gesprochen werden.

Gerlitz erzählt kurz darauf noch wahnwitzigere Geschichten. Wie etwa die, dass das Ministerium der Stadt verboten habe, auf kommunale Kosten Coronatests für die Schulen zu beschaffen, nachdem es Lieferschwierigen bei den ministeriell gekauften Tests gegeben habe. Manche in Jena erzählen inzwischen, dieses Verbot sei schließlich einfach unterlaufen worden. Unter der Hand seien tatsächlich tausende von der Kommune beschaffte Tests an Schulen eingesetzt wurden. Gegen den Willen des Ministeriums.

Was man sich in Jena stattdessen wünscht: Mehr kommunale Eigenverantwortung, wenngleich die landesweiten Erfahrungen aus dieser Pandemie zeigen, dass dieser Wunsch auch ein zweischneidiges Schwert sein kann. Denn gleichwohl man in Jena auch eher für mehr als für weniger Infektionsschutz plädiert, in anderen kreisfreien Städten und Landkreisen waren die Verantwortlichen zuletzt oft viel zurückhaltender dabei, strengere Regeln an den Schulen aufzustellen oder durchzusetzen. So, wie es kein Zufall ist, dass Gerlitz beim Betreten der Schule sofort über Omikron redet, ist es kein Zufall gewesen, dass Jena als erste größere deutsche Stadt schon im Frühjahr 2020 eine Maskenpflicht eingeführt hatte.

Aus ihrer unmittelbaren Erfahrung aber, sagen die Schulleiterin, der Schulleiter und Gerlitz, wüssten die Schulen und das Gesundheitsamt vor Ort am besten, wie Schulen zu einem möglichst sicheren Raum gemacht werden könnten. Wobei es dann auch vorkommen könne, dass zu einer bestimmten Zeit an einer Schule die Hygieneregeln A und an einer anderen die Hygieneregeln B gelten würden – während eine andere Schule vorübergehen vielleicht komplett geschlossen werden müsste, weil sie zu einem Corona-Hotspot geworden ist. „Die Eltern verstehen, dass man auf unterschiedliche Situationen mit unterschiedlichen Maßnahmen reagieren muss, wenn man ihnen das nur ausführlich erklärt“, sagt der Schulleiter.

Als auf dem Weg nach draußen die schwere Tür am Eingang der Schule wieder ins Schloss fällt, dauert es keine 24 Stunden, bis die Meldung in der Welt ist, dass auch Holter angesichts der Omikron-Gefahr Wechsel- und Distanzunterricht im neuen Jahr für möglich hält und er dafür plädiert, an den ersten beiden Schultagen im neuen Jahr keinen Unterricht anzubieten. Das deutet – kurz vor dem letzten Schultag dieses Jahres an diesem Mittwoch – eine neue Flexibilität immerhin an, die man sich in Jena schon lange wünscht.

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