Nach Corona-Demo in Sonneberg Bürgermeister gibt Ex-Pfarrer kontra

Eine Demonstration gegen Corona-Maßnahmen am Sonntag vor der Kapelle in Sonneberg-Hönbach. Foto: /chz

Der ehemalige Pfarrer von Steinach macht bundesweit Schlagzeilen nach seinem Auftritt auf einer Demonstration gegen Coronamaßnahmen am Sonntagabend. Der Bürgermeister von Steinach ist entsetzt, weil er sich dem Pfarrer freundschaftlich verbunden fühlt. „Eine weltweite Pandemie mit über fünf Millionen Toten lässt sich weder wegdemonstrieren noch wegleugnen“, schreibt der Bürgermeister und zeigt sich enttäuscht über das Verhalten des Pfarrers.

 
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Steinach/Sonneberg - Die Pandemie tobt sich in Thüringen und Sachsen aus, bei der Belegung der Intensivstationen ist Thüringen Spitzenreiter. Seelsorger haben viel zu tun, mit Erkrankten, mit Angehörigen, aber auch mit denen, die an Corona-Einschränkungen verzweifeln. Am Wochenende hat der ehemalige Stadtpfarrer von Steinach (Landkreis Sonneberg), Martin Michaelis, auf einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen mit mehr als 1000 Teilnehmern in Sonneberg-Hönbach gesprochen. Der Vorsitzende des Thüringer Pfarrvereins machte aus seiner Skepsis an den Impfprogrammen keinen Hehl und meinte, mit dem besten aller Immunsysteme habe Gottes Schöpfung den Menschen ausgestattet. Mit Bezug auf die zehn Gebote stellte er eine Unvereinbarkeit der Corona-Ansteckungsschutzregeln mit dem christlichen Weltbild her. „Wenn aber der Obrigkeit Gebot ohne Sünde nicht befolgt werden kann, soll man Gott mehr gehorchen als den Menschen“, sagte er.

Der Bürgermeister von Steinach, Ulrich Kurtz, ist entsetzt. „Pfarrer Martin Michaelis, mit dem ich seit seiner Zeit in Steinach freundschaftlich verbunden bin, war an dem Nachmittag noch bei uns zu Besuch – leider hatte er nicht den Mut, uns zu sagen, warum er hier war. Meine tiefe Enttäuschung teile ich mit vielen Steinacher und Steinacherinnen“, erklärt er. Eine weltweite Pandemie mit über fünf Millionen Toten lasse sich weder wegdemonstrieren noch wegleugnen, sie erfordere engagiertes und stringentes Handeln. Deshalb gehe die Pandemie alle an. Gemeinwohl sei t nicht die Summe von allen möglichen Egoismen. Gemeinwohl könne für den einen oder anderen durchaus auch unbequem sein. „Eine funktionierende Gesellschaft ist mehr als eine bloße Ansammlung von Individualisten, eine funktionierende Gesellschaft braucht vor allem lebendige Solidarität“, so Ulrich Kurtz.

Der Beitrag des Bürgermeisters im Wortlaut:

„So sehe ich das: Die Corona-Pandemie ist mit einer gewaltigen vierten Welle zurück und hat uns schwer getroffen. Die täglichen Zahlen zu Infektionen, Hospitalisierungen und Sterbefällen sind alarmierend und dramatisch. Täglich sterben in Deutschland hunderte Menschen, die nicht sterben müssten.

Thüringen und unser Landkreis sind besonders stark betroffen. Die Beschäftigten in den Kliniken, Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen, in den Gesundheitsämtern arbeiten die ganze Zeit schon am Limit – bis zur Erschöpfung. In den Kliniken ist ein regulärer Betrieb nicht mehr möglich. Stationen werden geschlossen, planbare Operationen und Behandlungen verschoben.

Die Berichterstattung in den Medien sollte täglich voll sein von diesen Menschen und von dem, was sie leisten und auch von dem, was sie nicht (mehr) schaffen können. Ich bin sicher, dass diese Realität noch nicht bei allen angekommen ist.

Es ist für mich deshalb nicht zu verstehen, wenn, wie berichtet, am Sonntag in Sonneberg etwa 1100 Leute (rund zwei Prozent der Kreisbevölkerung) sich anmaßen, ihren Individualismus zu Lasten der Gesellschaft ausleben zu wollen - „Eure Regeln interessieren uns nicht“. Es ist für mich auch nicht zu verstehen, wie man Verständnis für die Teilnehmenden haben kann – sie verstoßen ja nur gegen Gesetze und Verordnungen, gefährden andere und verbreiten vielleicht das Corona-Virus – man lobt, es sei friedlich und ohne zu hetzen geschehen, was für ein Erfolg?

Was für eine Respektlosigkeit! - gegenüber all den Anderen – nämlich der großen Mehrheit – die ganz selbstverständlich diese Gesetze einhalten und gegenüber denen, die Tag und Nacht arbeiten und sich einsetzen, um die Pandemie einzudämmen…

Die Veranstaltung wurde inszeniert, als wolle man was Gutes tun. Da ist von Mitgliedern einer „Initiative von Heilberufen“ die Rede. Wer das sein soll, bleibt offen – und auch Google kennt diese Organisation nicht, klingt aber achtbar. Ein Pfarrer wird aufgeboten, da fühlt man sich besser – „mit Gottes Hilfe“ - auch wenn man sonst eher nichts von der Kirche hält. Selbst Leonard Cohen muss mit herhalten, er kann sich ja nicht mehr wehren.

Pfarrer Martin Michaelis, mit dem ich seit seiner Zeit in Steinach freundschaftlich verbunden bin, war an dem Nachmittag noch bei uns zu Besuch – leider hatte er nicht den Mut, uns zu sagen, warum er hier war. Meine tiefe Enttäuschung teile ich mit vielen Steinacher und Steinacherinnen.

Und ganz friedlich und ohne Hetze war die Wortwahl, den Berichten zufolge, wohl nicht, wenn von einer „Obrigkeit“ die Rede ist, die man dann auch mit der zu Luthers Zeiten vergleichen will … und „die Politik“, „die Medien“, „die Gerichte“ … zum Feindbild machen will. Wer so billige populistische Phrasen drischt, will polarisieren und den Staat diskreditieren. Und wer daran Gefallen gefunden hat, muss sich fragen lassen, ob er oder sie, unsere Demokratie verstanden haben. Keinesfalls ausblenden darf man, dass aus aufwieglerischen Worten schon zu oft widerliche Taten geworden sind.

Ich kenne die, möglicherweise, höchst unterschiedlichen Motive der Teilnehmenden nicht. Sie sind weder zu rechtfertigen noch zu verstehen. Sicher, es ist nicht einfach, aus der Fülle von Informationen und Desinformationen, die uns täglich erreichen, Wichtiges und Unwichtiges, Richtiges und Unrichtiges zu filtern. Aber wer unsicher ist, kann sich an vielen zuverlässigen Quellen selbst informieren oder Rat einholen.

Eine weltweite Pandemie mit über fünf Millionen Toten lässt sich weder wegdemonstrieren noch wegleugnen, sie erfordert engagiertes und stringentes Handeln. Deshalb geht die Pandemie uns alle an. Es geht um eine gemeinsame Verantwortung, um gemeinsames verantwortliches Handeln im Interesse der Gesundheit aller, im Interesse des Gemeinwohls – und das Gemeinwohl ist nicht die Summe von allen möglichen Egoismen. Gemeinwohl kann für den einen oder anderen durchaus auch unbequem sein.

Eine funktionierende Gesellschaft ist mehr als eine bloße Ansammlung von Individualisten, eine funktionierende Gesellschaft braucht vor allem lebendige Solidarität.

Und wenn diese Pandemie bewältigt ist, dann sollten wir eine große gesamtgesellschaftliche Diskussion führen, wie wir in Zukunft leben wollen. Es wäre schön, wenn dann möglichst alle noch dabei wären.“

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