Sorge Sonneberger Klinikärzte Ohne Impfschutz geht das Sterben weiter

Ein Covid-Patient im Sonneberger Foto:  

Waren in den ersten Corona-Wellen vor allem Hochbetagte zu versorgen, so haben es die Ärzte und Schwestern in den Medinos Kliniken aktuell meist mit 40- bis 60-Jährigen zu tun, die unter einem schweren Verlauf ihrer Infektion leiden. Muss einer auf die Intensivstation? Sinkt die Chance zu überleben auf 50 Prozent.

 
Schließen

Diesen Artikel teilen

Sonneberg/Neuhaus am Rennweg - „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Eine Demonstrantin hatte sich am zweiten Adventssonntag den Artikel 1 des Grundgesetzes ausgewählt für ein Schild, das sie zur „Lichterketten-Aktion“ auf dem Rücken spazieren trug. Es ist ein Satz, hinter dem sich jeder in Corona-Deutschland im Winter 2021 ganz gut einordnen kann. Jene, die sich um’s Recht auf Glühwein-Geselligkeit und Garagenparty geprellt sehen vermutlich ebenso wie jene Mütter und Väter, die zum Job auf offene Kindergärten und funktionierende Schulen angewiesen sind. Oder Selbstständige, die Bewegungsfreiheit brauchen, Familien, die darunter leiden nicht mehr in gewohnter Form Kontakt halten können zu ihren Angehörigen in Einrichtungen.

„Ein normales Leben, das wünschen wir uns doch alle zurück“, sagen am Dienstag einmütig Franziska Groenen und Marcus Thieme. Beide sind Ärzte am Sonneberger Medinos-Krankenhaus. Beide gehören im zweiten Pandemiewinter einem Berufsstand an, der bezogen auf Anspruch und Haltung dieses ersten Grundgesetz-Satzes in ganz besonderer Weise gefordert ist: Demnach gehört es zur Würde des Menschen vor allem, ihm in der Stunde der Not Zugang zu medizinischen Leistungen und ärztlicher Versorgung zu ermöglichen. Damit er überlebt. Der Mensch. Mitsamt der ihm seit Geburt innewohnenden Würde.

Mit dieser Verantwortung sind die Ärzte und Mediziner, Pfleger und Schwestern in den Medinos-Klinken in diesen Tagen über die Maßen beansprucht. In der Spitze lagen in den zwei Häusern in Sonneberg und Neuhaus vergangene Woche 85 Corona-Patienten, am Dienstag sind es mit 79 kaum weniger.

Waren in der ersten, zweiten und dritten Welle vor allem Hochbetagte zu umsorgen, so hat sich das Bild längst gewandelt. Die Delta-Variante grassiert in den jüngeren Alterskohorten. „Es beginnt bei Anfang 30“, sagt Thieme, Chef der Inneren und Co-Leiter des Gefäßzentrums. Das Hauptklientel markieren Männer im Alter von 40 bis 60 – „nicht alle haben eine gute Prognose“.

Klar, sagt, Thieme, es gäbe mittlerweile Therapien. Man kann eingreifen, um dem schweren Covid 19-Verlauf etwas entgegenzusetzen. „Es sind wenige und teure Medikamente. Aber es gibt schon erste Lieferengpässe.“ Was den Helfern in Weiß zu schaffen macht, ist ansonsten die Dauerbeanspruchung seit anderthalb Jahren.

Die nimmt gegenwärtig noch zu. Eigentlich sind es jeden Tag um die acht Neuaufnahmen, die abzuwickeln sind. „Nur noch Corona“, so Groenen, Chefin der Notaufnahme und stellvertretende ärztliche Leiterin des Rettungsdienstes.

„Es macht natürlich etwas mit den Kollegen, wenn sie es vermehrt mit Leuten im eigenen Alter zu tun haben. Das fasst einen an“, hinterlässt Bestürzung, wenn einem Männer und Frauen Anfang 40 wegsterben. „Viele überlegen, wie lange sie sich das eigentlich weiter antun wollen und können.“ Manche haben aufgehört, auf Station zu arbeiten, schildert die Neuhaus-Schierschnitzerin. Andere sind erkrankt.

Der Aderlass bei den Fachkräften schlägt unmittelbar durch. Wie bereits berichtet, können in den Medinos-Kliniken gegenwärtig 36 Betten nicht belegt – schlicht weil es an Personal fehlt.

Man möge sich also bitte vorstellen, wie das am Montag war. „Sich einerseits jeden Tag abzumühen, um den Menschen bestmöglich beizustehen.“ Dann in der Zeitung lesen zu müssen, dass da über tausend Leute demonstrieren, ohne Abstand, ohne Maske. Dazu ein Pfarrer, der alle Mittel, um der Pandemie beizukommen, infrage stellt. Und sich dabei auf Martin Luther beruft, um ein Recht auf Widerstand gegen Ansteckungsschutzregeln zu behaupten. „Es ist demotivierend“, fasst Groenen die Reaktion in der Belegschaft zusammen.

„Als bekennender Christ hat mich das tief getroffen“, sagt Marcus Thieme. Was für ein Unfug sei das eigentlich ausgerechnet Martin Luther als Schutzpatron gegen Corona-Prävention in Stellung zu bringen. „Luther war ein Aufklärer. Einer, der den Menschen geholfen hat ein Verständnis von Gottes Wort zu erlangen.“ Den Reformator herzunehmen, um Stimmung zu machen gegen Gesundheitsschutz, passe hinten und vorne nicht zusammen. Der 50-Jährige ist erbost, dass es ausgerechnet ein Kirchenmann zu seiner Sache macht gegen das Impfen anzureden. Denn das Impfen, so Thiemes Überzeugung, wird die einzige Möglichkeit sein irgendwann einmal wieder ein gewisses Maß an jener Normalität zu erlangen, „die wir alle für uns wollen. Auch ich als Arzt“.

Ob dies den Sonnebergern gelingt, daran haben beide im Moment ihre Zweifel. Die Sieben-Tage-Inzidenz im Landkreis schwankt seit Wochen um die 1000er-Schwelle. Der Mechanismus, der darauf folgt, ist ihnen sattsam bekannt: Mit zwei Wochen Verzögerung müssen viele Infizierte in die Notaufnahme. Die gegenwärtige Hospitalisierungs-Inzidenz für den Kreis Sonneberg von 53 – zugleich die mit Abstand höchste in der oberfränkisch-südthüringischen Region – gibt am Dienstagmorgen eine Ahnung von der kommenden Wucht der Welle.

Trotzdem mahnen Thieme und Groenen Erkrankte im Falle von Beschwerden nicht zuzuwarten. Das Geschäft der beiden ist nicht die Intensivstation, dort führen andere Regie. Ihr Anliegen ist es Patienten genau jene Prozedur von künstlichem Koma plus invasiver Beatmung soweit rechtzeitig machbar zu ersparen. Zwei Möglichkeiten hat man an der Hand. Da gibt es Highflow-Geräte, deren Zahl jetzt auf zehn aufgestockt wurde. Die Betroffenen bekommen einen Schlauch zur Nase geführt, der ihnen Sauerstoff zuführt. Dann gibt es noch Beatmungsunterstützung in Form einer Maske, die geschlossen über Mund und Nase gezogen wird und Sauerstoff mit leichtem Druck in die Lunge presst, um die letzten Reserven des Organs auszuschöpfen. „Je früher die Menschen zu uns kommen, desto besser ist die Chance, dass wir noch helfen können.“

Doch dürfe man sich keine Illusion machen über die Kapazitäten. Vergangenes Wochenende waren erstmalig alle 15 Geräte belegt, für einen weiteren Patient hätte keine Technik mehr zur Verfügung gestanden. Geschweige Pfleger oder Schwestern, die ständig Vitalfunktionen oder Sauerstoffsättigung überwachen.

Auf Kante genäht bleiben die Möglichkeiten von Neuaufnahmen über die Notaufnahme auch zu Wochenbeginn. „Im Moment ist es so, dass wir vereinzelt Patienten aus Kronach bekommen.“ Hildburghausen hat sich seit einigen Tagen ganz abgemeldet. „Lichtenfels und Coburg sind hart an der Belastungsgrenze. Wir entlasten, indem wir die Neustadter bei uns mit versorgen“, sagt Franziska Groenen.

Was da an Erkrankten in ihrer Notaufnahmen anstrandet, lässt sich zudem nicht immer auf den ersten Sitz leicht mit Corona in Verbindung bringen. Massive Gedächtnisausfälle eines Mannes im mittleren Alter nennt sie als Beispiel – „der hatte nicht einmal mehr die Namen der eigenen Kinder in Erinnerung“.

Thieme fürchtet für die nächsten Wochen vor Weihnachten das Schlimmste, wenn das Infektionsgeschehen nicht endlich abebbt. Die DIVI, die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, hat ihm dieser Tage die Vorabfassung klinisch-ethischer Entscheidungshilfen zukommen lassen. Im Kontext mit der Covid 19-Pandemie geht es kurz gesagt darum, wer für den Fall, dass die Kliniken kollabieren unterm Ansturm, sinnvollerweise Hilfe erhalten soll.

Über die Verteilung von Ressourcen entscheiden zu müssen, darüber, welcher Mensch welche Chancen hat zu überleben? Den Daumen anhand von Kästchen und Kreuzchen heben oder senken zu sollen, als wäre man im Feldlazarett? Thieme spricht von einem „Pamphlet“, das man sich als Journalist gerne mal zu Gemüte führen könne. „Dafür bin ich nicht Arzt geworden.“

Grenzen im Abwehrkampf gegen die Schäden, welche die Lungenkrankheit anrichtet, erleben beide täglich. Wechselt ein Betroffener auf die Intensivstation, sinkt die Überlebenschance ab auf 50 Prozent. Das ist ihr Erfahrungswert in diesen Tagen.

„Jeder muss sich in Sonneberg klar machen, dass er ohne Impfung Angehörige verlieren wird, die ihm lieb und teuer sind.“ Denn auch das erweise sich beim Blick auf die Patienten auf Station – von den 79 sind lediglich elf geimpft.

Den Ärmel hochzukrempeln für den Schutz aus der Spritze hilft, lautet ihr Appell. Es senkt das Risiko eines schweren Verlaufs, betont Groenen. „Kollegen, die daran Zweifel haben, können sich gerne bei mir melden“, sagt Thieme unter Bezug auf jene „Initiative von Heilberufen“, die am zweiten Advents für die Versammlung nebst Kundgebung an der Hönbacher Friedhofskapelle verantwortlich zeichnet.

Wenn es sich denn mit der Würde der Protestierer verträgt? Wäre das vielleicht ein heilsamer Ansatz – um die Zuspitzung zur Katastrophe noch abzuwenden.

Autor

Bilder