Buchpremiere in Suhl Thüringer Rotwurst als Dank für die Erinnerungen

Landolf Scherzer (l.) und Hans-Dieter Schütt bei der Buchpremiere am Freitagabend in Suhl. Foto: Michael Reichel

Der eine bekommt am Ende Rotwurst, der andere trägt sich ins Goldene Buch der Stadt ein: Hans-Dieter Schütt und Landolf Scherzer absolvierten beim SOS-Festival in Suhl ihre erste Open Air-Buchpremiere.

 
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Weltraum der Provinzen“ – vier Mal, sagt Hendrik Neukircher, Chef des Suhler Provinzkultur-Vereins am Freitagabend auf dem Platz der Deutschen Einheit, habe die Premiere dieses Buches in den zurückliegenden Monaten verschoben werden müssen. Dabei ist es ausgerechnet das persönlichste Werk über und von Landolf Scherzer, dem sogar die sonst bei einer Scherzer-Buchpremiere immer völlig überfüllten Lesungen auf der Leipziger Buchmesse versagt blieben.

Nun also Suhl – das ist Tradition. Nun also Open Air – das ist neu. Nun also der Landolf im blauen Strickpullover – was in etwa so ein Markenzeichen ist wie der Rhomben-Pulli von Olaf Schubert. Und nun – und auch das ist eine Premiere, nicht er alleine vor dem Publikum, sondern gemeinsam mit dem Journalisten und Autoren Hans-Dieter Schütt in den roten Sesseln auf der Lesebühne, die das SOS-Festival unserer Zeitung und Provinzkultur den beiden bieten.

Schütt hat gefragt, Scherzer hat geantwortet, entstanden ist ein 300 Stunden langes Interview. Nicht alles von diesen Aufzeichnungen findet am Ende seinen Weg zwischen die Buchdeckel. Der Suhler Schriftsteller kokettiert noch immer ein wenig mit dem Bekenntnis, dass dies seine Idee nicht gewesen sei, was man ihm sofort glaubt. Gefreut freilich, hat es ihn schon, zu seinem Achtzigsten im vergangenen April von seinem Hausverlag, Aufbau in Berlin, eine Art literarische Reise durch sein eigenes Leben geschenkt zu bekommen. Er selbst, erzählt er in Suhl, hätte nie eine Autobiografie geschrieben. Wer seine Bücher kennt, weiß: Das ist nicht seine Rolle, nicht die eines Reporters, der sich für die Biografien der anderen interessiert. Und Schütt sagt, was so mancher im Publikum in diesem Moment denkt: „In seinen Büchern erfährt man nichts über Scherzer.“ Das hat ihn gereizt.

„Ein Schicksalsspiel ist jede Biografie“, sagt er in Suhl. Und meint damit wohl ein berühmt gewordenes Zitat des Schweizer Philosophen Henri-Frédéric Amiel: „Jedes Leben schafft sein eigenes Schicksal.“ Im Dialog lesen und erzählen sie auf der Bühne: Schütt die Fragen, Scherzer die Antworten. In Dresden geboren, in der Sächsischen Schweiz und der Niederlausitz aufgewachsen, in Thüringen die meiste Zeit seines Lebens vollbracht – das ist das Schicksal, das der liebe Gott, wenn man so will, für Landolf Scherzer bereit hält. Obwohl der ihn bestimmt nicht verantwortlich machen würde für sein eigenes Leben. Alleine, weil es wohl weniger göttliche Vorsehung, sondern parteipolitischer Zoff an der Leipziger Universität gewesen ist, der den jungen Scherzer „zur Bewährung“ vom Journalistik-Studium in die Thüringer Provinz katapultierte.

Dennoch: In vielen Passagen des Buches erzählt Landolf Scherzer auch von jenem Teil seines Lebens, der ihm trotz hartnäckiger Nachforschung keine Antworten schenkte. Etwa Begegnungen mit seinem Vater, Fragen nach dessen Biografie, nach dessen Zeit als Soldat im Krieg in Frankreich und in Russland, nach dessen glühenden Einsatz für die neue Sache danach. Der Vater erlaubte nie auch nur einen leisen Zweifel an der Sache des Sozialismus. Warum? Antworten oder Erklärungen, erzählt Scherzer, habe er nie bekommen. Nur eisernes Schweigen. Alles habe der Vater mit ins Grab genommen. Macht des Schicksals, göttliche Vorsehung – wer vermag das zu beurteilen?

„Man begreift einen Menschen nur, wenn man seine Vergangenheit kennt“, sagt Landolf Scherzer. Deshalb ist er Reporter geworden. Deshalb zieht er durch die Welt und stellt Fragen nach dem Leben und dem Erlebten. Was man ihm erzählt, füllt seine Bücher. Aber, das gilt auch für ihn. Wer seine Texte liest, weiß, wie er denkt, wie fühlt. Aber was ihn antreibt, was ihn prägt, erzählen sie nicht. In seinem biografischen Gespräch mit Hans-Dieter Schütt gibt er dem Leser nun Hinweise. Und in Suhl sagt er: „Man hat Verluste, wenn die Eltern etwas nicht erzählen. Das habe ich gespürt.“ Der Vater hat ihn geprägt. Die Unfähigkeit, zu erzählen. Vielleicht liegt genau hier ein Puzzle zu Scherzers eigenem Lebensweg. Vielleicht fragt er deshalb Menschen nach ihren Erlebnissen. Vielleicht ist er genau deshalb Reporter geworden. Hans-Dieter Schütt will wissen, ob er bei seinen Recherche-Reisen, bei denen er fast immer auf sich alleine gestellt ist, auch einmal Angst habe. „Nein“, sagt Scherzer, „höchstens davor, dass ich niemanden treffe, mit dem ich reden kann.“

An diesem Abend lenkt Schütt das Gespräch noch einmal auf den „Ersten“ – den größten Erfolg des Suhler Schriftstellers. Mit diesem Buch steht Scherzer im Zenit der Literaturszene der DDR. Im Publikum erinnert sich der ein oder andere an das Jahr 1988, als die Reportage über Hans-Dieter Fritschler, den Ersten Sekretär der SED-Kreisleitung Bad Salzungen, gedruckt erschien. „Wie eine Bombe“ sei das eingeschlagen, erzählen sie auf dem Platz der Deutschen Einheit. Eine ungeschönte Innenansicht des SED-Betriebs, die vorher noch nie jemand aufgeschrieben hatte, aufschreiben durfte. Acht Wochen lang konnte Scherzer den Ersten Sekretär begleiten. Einige Jahre hatte er mit der SED-Bezirksleitung um dieses Projekt gerungen. In Suhl sagt er: „Ein Glück fiel die Wahl auf Hans-Dieter Fritschler. Er hatte einen Veränderungswillen der nicht im Widerspruch zur Loyalität zur Partei stand.“ Und damit war er dem Autoren Scherzer selbst sehr nahe. In Suhl bekennt der im Rückblick auf den Sozialismus der DDR: „Ich hielt viele Dinge für veränderbar. Das war vielleicht ein Fehler.“

Hans-Dieter Schütt bekommt am Ende eine Büchse Thüringer Rotwurst von Landolf Scherzer – als augenzwinkerndes Dankeschön für dieses Buch und die Einblicke in das Leben eines Mannes, dessen Meinung vor allem hierzulande noch immer etwas zählt. Über die Wurst haben sie auch gesprochen. Und wenn der Berliner Schütt sie in der fernen Hauptstadt verspeist, versteht er den Thüringer Scherzer und seine Ansichten vielleicht noch ein Stückchen besser.

Landolf Scherzer bekommt am Ende einen Eintrag ins Goldene Buch der Stadt Suhl zum Dank. Oberbürgermeister André Knapp selbst wagte sich als „Autogrammjäger“ auf die Bühne. Der Autor, sagt Knapp, habe die „Bewährung in der Provinz“ bestanden und möge der Stadt doch die Ehre erweisen. Das tut der so Überrumpelte auch. Und sagt: „Ich freue mich darüber“.

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