Temeswar – Letzten Freitag, kurz vor Temeswar, zieht Landolf Scherzer eine Halbzeitwanderbilanz. Seit drei Wochen ist der Thüringer Schriftsteller im ungarisch-kroatisch-serbisch-rumänischen Grenzgebiet unterwegs – und „für einen alten Sack“, wie er sich selbst gern nennt, erstaunlich gut in Form. Die Füße machen noch mit und auch der Rücken schmerzt nicht allzu sehr. Rund 300 Kilometer hat er bei zum Teil sengender Hitze in Südosteuropa und mit 18 Kilogramm Reisegepäck auf dem Buckel hinter sich. Das sind 15 Kilometer pro Tag auf Landstraßen oder Feldwegen und immer ohne zu wissen, wo er am Abend die Beine ausstrecken kann.

Große Gastfreundschaft

Trotz Staub und Schweiß ist Scherzer guter Dinge. Denn in den drei Wochen hat er nicht nur Menschen getroffen, die genügend Stoff für seine geplante Grenzgänger-Reportage bieten, sondern die ihn auch mit ihrer Gastfreundschaft überwältigten. „Sie öffneten mir nicht nur Türen, sondern auch Herzen“, sagt Scherzer. Wohl wissend, dass manch einer hierzulande hartnäckig glaubt, „da unten“ gebe es hauptsächlich Kriminelle und Prostituierte. Bestätigen kann er solche Vorurteile nicht. Gerade die kleinen Leute seien ausgesprochen gastfreundlich ihm gegenüber. „Irgend ein Bett wird für einen Fremden wie mich immer zurecht gemacht“, erzählt Scherzer. Ungewohnt mag es schon sein, mit Mutter und Großmutter einer Zigeunerfamilie gemeinsam in einem Raum zu schlafen. So geschehen in Srpska Crnja, dem letzten serbischen Dorf, in dem er auf dem Weg zur rumänischen Grenze durchkam. „Aber vor der Tür lassen die niemanden sitzen“, sagt Scherzer.

Und so hat der Dietzhäuser mittlerweile eine kleine Hitliste der ungewöhnlichsten Übernachtungsplätze zusammengestellt. In Beremend, dem letzten ungarischen Dorf vor der kroatischen Grenze, hat er in einem Kirchenvorraum geschlafen. In Batina, dem letzten kroatischen Dorf auf dem Weg nach Serbien, legte er sich in einem verlassenen Weinkeller zur Nachtruhe nieder. Nur das schon oft besungene Bett im Kornfeld fehlt noch in seiner Auflistung.

Eigentlich wollte Scherzer mit einem 50 Jahre alten Deutz-Traktor von Ungarn aus durch Südosteuropa reisen. Doch nach einem größeren Motorschaden musste er noch vor der kroatischen Grenze seinen Plan ändern. Er lief zu Fuß los – und hat das bis dato nicht bereut. „Es ist besser, als mit dem Traktor, denn ich bin viel näher an den Menschen dran“, so Scherzer. Ähnlich wie bei seiner innerdeutschen Grenzwanderung vor vier Jahren ist er auch jetzt wieder in einer Grenzregion unterwegs. Diesmal sind es das Banat, eine Gegend, die von Ungarn, Serben und Rumänen gleichermaßen bewohnt wird, und die Grenzregion zwischen Ungarn und Kroatien. Er will herausbekommen, wie es den Menschen fast 20 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs auf dem Weg in die Europäische Gemeinschaft geht. Und wie sehr die Folgen der Jugoslawienkriege das Zusammenleben der Menschen heute noch beeinflusst.

Konflikt und Gemeinsamkeit

„Die Menschen hier sind alle Grenzgänger“, lautet die bislang wichtigste Erkenntnis Scherzers. Jeder vereinige verschiedene Nationalitäten und Sprachen in sich. „Eine Multikulti, wie ich es noch nie erlebt habe.“ Selbst deutsche Wurzeln finden sich hier und da noch reichlich. Und auch die Probleme sind über die Grenzen hinweg ähnlich: Die Jugend wandert en gros vom Land in die Städte ab, mit privater Landwirtschaft halten sich viele kleine Leute notgedrungen über Wasser, und die vielen Kirchen sind – egal, ob katholisch oder orthodox – den Menschen ein Rettungsanker für die Seele. Natürlich gibt es auch Konflikte: Die Serben sind verbittert, weil sie – anders als die Rumänen – nicht zur EU gehören und somit auch keine Reisefreiheit besitzen. Aber selbst zwischen den Kriegsnationen Serbien und Kroatien gibt es die gemeinsame Sprache als etwas, das trotz aller Konflikte verbindet. „Am Grenzübergang sagte mir sowohl der kroatische als auch der serbische Grenzer ‚dobar dan‘ – Guten Tag.“

Noch bis Ende August will Landolf Scherzer unterwegs sein. In dieser Woche ist er auf dem Weg nach Siebenbürgen.