Landolf Scherzer nennt ihn "diesen furchtbaren Tag". Jener 25. November letzten Jahres, der für ihn so wunderbar beginnt, und der für dieses kleine Land so dramatisch enden soll. Er steht auf dem kleinen Balkon seiner kleinen Herberge und blickt in den stahlblauen Morgenhimmel über Havanna. Mensch, Kuba - war das nicht einst das Land der Träume, der einzige Zipfel Amerikas, der erreichbar schien? Er ruft der Stadt mit ausgestreckten Armen ein fröhliches "Buenos Dias" zu, blinzelt in die karibische Sonne - und sieht unter sich plötzlich ein Meer aus Gräbern. Er wohnt unmittelbar am Cementerio Cristóbal Colón, dem größten Friedhof Amerikas.

"Über eine Million Gräber gibt es da" erzählt Scherzer. Er sitzt in seinem Dietzhäuser Häuschen. Ein trüber Tag, an dem der Regen tief über dem Tal hängt. Er blickt auf Schneeglöckchen, Winterlinge und die ersten Krokusse, die sich vor dem Fenster seines Arbeitszimmers mutig ans Licht kämpfen. Er hat Kaffee aus Kuba mitgebracht, und eine riesige Tüte mit losem, hellbraunem Rohrzucker. Er setzt Wasser an. Und stellt Tassen auf den Tisch. Nach dem Frühstück sei er gleich auf den Friedhof gegangen, erzählt Scherzer. Er läuft kreuz und quer durch das fast 60 Hektar große Gelände. Als er zurückkommt, ist Fidel Castro tot.

Als Bote unterwegs

In diesem Moment, erzählt er, habe er an ein metaphysisches Ereignis geglaubt. Er weiß: Das ist Quatsch. Aber fragt sich trotzdem, wieso ihn das Schicksal am 25. November ausgerechnet auf den Friedhof führt. In der Heimat glauben sie, etwas Besseres hätte dem Schriftsteller gar nicht passieren können: Zu Beginn seiner sechswöchigen Recherchereise nach Kuba stirbt Fidel, der berühmte Revolutionär. Ist das nicht Stoff genug für ein Buch, das er mit dem Berliner Aufbau-Verlag verabredet hat? In der Karibik aber flucht Scherzer. "Neun Tage Trauer", erzählt er. "Da erlebst du Kuba nicht, wie Kuba ist." Er will über den Alltag der Leute schreiben. So aber kommt er in ein Land, in dem ihm die meisten Menschen bedrückt begegnen. Ein Land im emotionalen Ausnahmezustand. Traurigkeit selbst bei jenen, die mit dem kubanischen Sozialismus längst nichts mehr anfangen können. Nur langsam weicht diese Stimmung wieder dem normalen Leben. Doch was ist normal auf Kuba? Darauf hat Landolf Scherzer auch nach seiner Rückkehr keine Antwort. "Ich erlaube mir kein Urteil", sagt er, während der kubanische Kaffee in seinem Dietzhäuser Häuschen duftet und sich der Autor ein Gläschen kubanischen Rum einschenkt.

Kuba - ein magisches Wort für einen gelernten DDR-Bürger. Und für den linken Schriftsteller? "Ich war zu DDR-Zeiten nie in Kuba", sagt Scherzer. "Ich hatte nichts außer meiner Neugierde." Er sei ohne Bilder im Kopf nach Havanna geflogen. Dafür aber mit vielen Mitbringseln im Koffer. "Als Briefträger nach Havanna" steht in Kugelschreiber-Schrift auf einen Zettel seiner Manuskript-Mappe. Der Arbeitstitel. Vor seiner Abreise sucht er im Neuen Deutschland nach Menschen, die noch kubanische Freunde aus DDR-Zeiten haben. Er braucht Adressen, einen Anfang für seine Recherche. Dafür muss er Postbote spielen, denn mit den Adressen erhält er kleine Pakete: Einen Spenden-Scheck für ein Hilfsprojekt, ein Keilkissen, eine Packung Kabelbinder, die Chronik einer Berufsausbildung vor über 30 Jahren. "Ich hatte kaum Platz für meine eigenen Sachen", erinnert er sich.

Als er im Flugzeug sitzt, hat er über Kuba gelesen. Und sich vorgenommen, nicht über die beiden berühmten Klischees zu schreiben: Oldtimer und hübsche Frauen. Schon am Flughafen bricht er seine Vorsätze. Hübsche Mädchen mit schwarzen, zu Zöpfen geflochtenen Haaren begrüßen ihn am Einreiseschalter, ein Oldtimer bringt ihn in die Stadt.

Sechs Wochen liegen vor ihm, in denen er mit einer deutschen Dolmetscherin, die ein Praktikum in Havanna absolviert, den Menschen begegnen will. Doch erst einmal steht er in einer langen Schlange. Gibt nach drei Stunden auf, weil es einfach zu heiß ist. Und versucht es am nächsten Tag wieder. Er will den Comandante sehen, den aufgebahrten Fidel Castro. Wie er das im Buch beschreiben wird, weiß er noch nicht. Aber er spürt an diesem Tag, dass in Kuba ein Zeitalter zu Ende geht, in dem sich länger als ein halbes Jahrhundert Weltpolitik gespiegelt hat.

Auf dem Fußboden seines Arbeitszimmers stapeln sich Bücher über Kuba. Landolf Scherzer recherchiert noch immer. Die Erlebnisse stehen in seinen Notizbüchern. Nun sucht er nach Hintergründen - und findet sich mitten im Klassenkampf wieder. Die Meinungen über das kleine Land mit der großen, sozialistischen Idee gehen weit auseinander - auch in den Büchern. Zwischen den Zeilen sucht er nach Wahrheiten.

60 Jahre Blockade

1959 hat die kubanische Revolution die Militärdiktatur Batista gestürzt. "Die Kubaner haben für ihre Vision selbst gekämpft und bekamen sie nicht übergestülpt", sagt Scherzer. Für ihn ist das ein Indiz. Es sei eben nicht so einfach, über den kubanischen Sozialismus zu urteilen. Er hat ein Land gesehen, dessen Menschen 60 Jahre Wirtschaftsblockade aushielten. "Trotz bitterster Armut haben die Kubaner ihre Regierung nicht gestürzt." Scherzer will wissen, warum. Er trifft junge Kubaner, "die nur gut leben wollen." Besucht Bauern in den Bergen, denen kleine Solaranlagen den ersten Strom ihres Lebens für eine Glühlampe oder ein Kofferradio bringen. Spricht mit ausreisewilligen, oppositionellen Kubanern, die am Tag von Fidels Tod trauern. Eine Exil-Kubanerin erzählt ihm, wieso sie aus Mexiko wieder zurück in die Heimat kam: "Mein Sohn soll sicher aufwachsen und eine gute Bildung bekommen." Kein Kubaner, sagt Scherzer, werde im Land festgehalten. Jeder dürfe sofort ausreisen. Aber wohin? Nur wenige erhalten nach langer Wartezeit ein Visa - etwa in Deutschland. Noch immer halten die USA das Wirtschaftsembargo gegen Kuba aufrecht. Niemand darf in Kuba investieren oder Geldgeschäfte machen. Scherzer erzählt von einem deutschen Touristen, der in Havanna operiert werden muss, und dessen Krankenversicherung das Geld nicht überweisen darf, weil sie eine Niederlassung in den USA besitzt. So erleben Kubaner die Werte der freien, westlichen Welt.

Von solchen Widersprüchen will das Buch erzählen. Landolf Scherzer weiß, dass nach der langen Ära des Sozialismus nun der Kapitalismus Einzug halten wird. Doch was heißt das für die Kubaner? Da sind die Ideale, die noch immer viele teilen. Und da ist die Sehnsucht vieler, besser zu leben. Mit diesem Gefühl steigt Landolf Scherzer am 31. Dezember ins Flugzeug. Am 1. Januar ist er wieder zu Hause. Er weiß, es ist ein Abschied. Einer, der weh tut: "Wenn ich mir anschaue, wie in der Welt gerade aufgerüstet wird, wie soll ich da hoffnungsfroh für Kuba sein?"

Das Kuba-Buch Landolf Scherzers erscheint zur Leipziger Buchmesse 2018. Der Aufbau-Verlag bringt im Mai die Taschenbuch-Version des "Roten" heraus - mit einem ausführlichen Nachwort verschiedener Autoren.