Um das mal gleich loszuwerden: Die Frage, wie viel Utopie Zukunft braucht, ist am Dienstagabend nicht beantwortet worden. Und auch andere eher akademische Fragestellungen, etwa die nach dem romantischen Attitüden des Andersen-Märchen von des Kaisers neuen Kleidern blieb unbeantwortet. Romantik und Realismus - das ist ein sehr weites Feld. Und ein sehr Abstraktes. Zu weit und zu abstrakt jedenfalls für einen Abend, der sich im Foyer der Kammerspiele mit dem Schriftsteller Ingo Schulze auseinander setzen will. Denn der gilt nicht erst seit seiner berühmt gewordenen Dresdner Rede vom Februar diesen Jahres als einer der wenigen Künstler, die sich klar und unmissverständlich zum Zustand unserer Gesellschaft verlautbart haben.

Auf Einladung des städtischen Kulturamtes sollte der Dresdner Schulze nun mit dem Jenaer Kulturwissenschaftler Dietmar Ebert über die Gesellschaft, das Märchen und das, was beide verbindet, ins Gespräch kommen. Wohl las Schulze auch aus seiner 2008 erschienen Erzählung "Adam und Evelyn" - einem heute schon ziemlich seltsam anmutenden Ost-West-Geschehen aus wilden Wendetagen. Was das Meininger Publikum aber wirklich interessierte, das war natürlich Schulzes Sicht auf die Lage der Dinge. In der Dresdner Rede, in der er unter dem Titel "Unsere schönen neuen Kleider" das Andersen-Märchen und den Kapitalismus à la "westliche Welt" gedanklich zusammenführt, hat der Schriftsteller, der einst als Journalist und Theaterdramaturg in Thüringen arbeitete und an der Jenaer Universität studierte, etwas auf den Punkt gebracht: Es könne nicht sein, findet Schulze, dass die Gesellschaft zu einer "marktkonformen Demokratie" (Angela Merkel) und also zerstört werde. Vielmehr müssten die Märkte demokratiekonform gemacht werden.

Ablesen lässt sich dieser bedrohliche gesellschaftliche Umbauprozess Prozess für Ingo Schulze zum Beispiel an der Vermögensverteilung in der Bundesrepublik. Die ärmere Hälfte der deutschen Bevölkerung - immerhin rund 35 Millionen Menschen - besaßen 2007 mit 103 Milliarden Euro gerade einmal 1,4 Prozent des Gesamtvermögens und damit weniger als die zehn reichsten Deutschen. Noch Fragen? "Wir sind aus einer Welt der Worte, in eine Welt der Zahlen gekommen", meint der Autor rückblickend auf die eigene DDR-Vergangenheit. Und das bedeutet für ihn auch: Aus den Zwängen von einst, wie sie die (SED-)Obrigkeit aufbaute und wie sie im Herbst 1989 hinweg demonstriert wurden, sind die Sachzwänge von heute geworden. Nur lassen sich die nicht so leicht mit Kerzen und Montagsdemos aus der Welt schaffen.

Zwischen

Ingo Schulze stellt in gewisser Weise die Systemfrage. Aber nicht, indem er das System an sich in Frage stellt, sondern nur die hässlichen Ausgeburten, die in der Ausplünderung des Sozialstaats bestehen, in der organisierten Gier Einzelner und in staatlich sanktionierten Ungerechtigkeiten. Dass es da Ost- wie Westdeutsche gleichermaßen trifft steht für ihn außer Frage. Allerdings auch, dass Ostdeutsche ungleich stärker betroffen sind. Die Ursache hierfür sieht er im Vereinigungsprozess - obwohl dieses Wort eigentlich nicht zutreffe. "Schade, dass es keine Vereinigung, sondern nur ein Anschluss war", meint Schulze. Dann nämlich hätte auch der Westen die Möglichkeit gehabt, sich zu überprüfen. "So aber haben die einen alles richtig und die anderen alles falsch gemacht." Der Mauerfall habe den Westen nicht besser gemacht, weil er sich nicht infrage stellen musste.

Neu sind solche Sätze nicht. Neu ist, wie klar sie von jemanden ausgesprochen werden, der sich nicht als Politiker versteht. Und neu ist die literarische Qualität, die Schulze mit seiner Rede, die auch als Essay erschienen ist, versucht. Das Ost-West-Denkschema, das sich zuweilen auch während der Diskussion spüren ließ, ist der Biografie des Autors geschuldet. Wenngleich Ingo Schulze deutlich macht, dass heute alle vor den gleichen Problemen stehen. Tja, und wie kommt man aus dem Dilemma raus? Diese Frage musste in Meiningen natürlich unbeantwortet bleiben. Schulzes Versuch einer Antwort kann kaum trösten: Früher, sagte er, vermutete man Utopien eher an einem fernen Ort. Heute müsste man sie in der Gegenwart suchen.