Sie schreiten, gehen, hasten, eilen. Aufrecht und gebeugt. Manche fliehen, manche hinken, manche stellen sich gar gegen den Strom. Von links nach rechts treibt es die Menschen - aber eigentlich von irgendwo nach nirgendwo. Als seien sie aus der Zeit gefallen. "Die Wunden, die Fortuna schlug, beklag' ich feuchten Auges, weil sie mir missgesinnt entzieht, was sie mir selbst gegeben", singen sie dazu. Ein Text, der sich nur in Vollkommenheit vereint mit der Musik, wenn er seine lateinische Gestalt annimmt.

Im Graben steht Philippe Bach, der Orchesterchef, dirigiert hemdsärmelig die Viertelnoten ins Orchester und an die beiden Repetitorien, die links und rechts der Bühne an den Pianos sitzen. Unterbricht, setzt wieder neu an, unterbricht wieder, während Chorchef Martin Wettges mit der Partitur unter dem Arm über die Bühne eilt und seine Sänger korrigiert. "Konsonanten", sagt er, "Konsonanten betonen." Und auch aus dem Graben grummelt es: "Wenn wir leise spielen, könnt ihr doch auch leise singen, oder?" Und sie singen leiser und betonen die Konsonanten. Und spielen dazu. Menschen. Aus der Zeit Gefallene. Die Figuren der "Carmina Burana".

Vier Chöre au der Bühne

Ivar Thomas van Urk sitzt im Parkett und hat die Arme weit über die Lehnen gebreitet. Bei einer Orchesterprobe hat der Dirigent das Sagen. Und eigentlich ist seine Arbeit fast schon getan: Der Niederländer hat sich eine Geschichte ausgedacht zu diesem Stück, das keine Geschichte zu haben scheint. Er hat seine Gedanken in Szene gesetzt, die Menschen dirigiert, den Opernchor, den Extrachor die Sänger der Suhler Singakademie und des Suhler Knabenchors. Rund 120 mögen es wohl sein, die singen und spielen. Sie sind Sänger und Darsteller zugleich, sie tragen diese wunderbaren Texte aus dem Kloster Benediktbeuren vor, denen Carl Orff 1937 seine begnadete Musik schenkte. Und sie spielen die Geschichte, die der Regisseur dazu schreib. Keine alltägliche Angelegenheit für ein Theater!

"Ja bist du denn verrückt?" - das hätte man Ivar Thomas van Urk gerne gefragt. "Carmina Burana" in Szene setzen? Das geht meistens schief. Wie vor ein paar Jahren auf den Erfurter Domstufen. Die Musik singen ist das eine, aber diesen uralten Texten um Liebe, Glück und Sehnsucht einen verbindenen Sinn, eine Handlung geben? So oft Orffs Werk auch aufgeführt wird, viel mehr als das Rad der Fortuna, das sich auf der Bühne dreht, ist kaum einem Regisseur dazu eingefallen. Das weiß natürlich auch Ivar Thomas van Urk. Und doch wirkt er Tage vor der Premiere zufrieden, wenn er durch das Theater geht. "Für mich ist es jetzt perfekt", sagt er nach anstrengenden Proben, in denen er die Hundertschaft des Chores zu kleinen und großen Szenen dirigierte. "Anstrengend", sagt er. Nun, wo Szene und Musik auf der Bühne zusammen fließen, gewinnt seine Idee Gestalt.

Vom Himmel gefallen ist die allerdings nicht. "Ich hab ein bisschen schnell Ja gesagt, als mich das Theater fragte", erzählt van Urk. Dann aber gab es kein Zurück mehr. Der Regisseur, der in Berlin und Amsterdam lebt und sowohl Schauspiel als auch Oper inszeniert, hat sich in die lateinischen und mittelhochdeutschen Texte vergraben. "Bald", sagt er, sei ihm das Zeitlose in deren Bedeutung aufgefallen. Die Texte wandern scheinbar unbeeindruckt durch die Jahrhunderte. Sie sind nicht an die menschliche Zeitrechnung gebunden. Das, sagt er, habe ihn fasziniert: Im hohen Mittelalter geschriebene und in den Dreißigerjahren vertonte Texte heute zu erzählen.

"Um darüber fantasieren zu können, benötigt man eine Kunst-Gesellschaft", glaubt der Regisseur. Deswegen hat er seine Spieler angezogen, als seien sie in keinem Jahrhundert zu Hause. Sie sollen Abstand gewinnen zum Heute und Gestern. Sie sollen zeigen, worum es in den Texten geht: Um essen, trinken, lieben oder kaufen zum Beispiel. Das war im Mittelalter nicht anders als es heute ist. "Und was ist der Sinn?", fragt Van Urk. Der Sinn. Das ist die Idee. Der Sinn in dem ewigen Kreislauf der Menschen zwischen Geburt und Tod. "Sors rota tu volubilis" heißt es an einer Stelle der Carmina Burana: "Schicksal bist ein immer rollend Rad". Das Schicksal, das jeden irgendwie ereilt. Und so steht seine Fantasie-Gesellschaft auch dafür, dass der Mensch gefangen ist in Raum und Zeit, sein Gefühl der Freiheit in Wahrheit nur eine relative Freiheit meint, und er offenbar darauf konditioniert ist, das immer wieder Gleiche zu tun - von generation zu Generation.

Solche Gedanken sind es, die Ivar Thomas van Urk in Bilder übersetzt hat. Die Musik, weiß er, wird das übrige tun, um seine fantastische Geschichte zu erzählen. Als habe Carl Orff das geahnt, hat er einen schier übersinnlichen Sound kreiert, den Bach und Wettges, das Orchester und die Sänger in der kommenden Woche synchronisieren werden bis er perfekt ist.

Premiere am 23. Februar im Großen Haus. Karten unter Tel. 03693/451222