Gebt mir meine Kinder wieder", ruft das eine Mädchen verzweifelt auf der "Tumult"-Bühne - der Jugendspielstätte des Rudolstädter Landestheaters. "Wie viele?", fragt das andere zurück. Fünfzehn, Sechzehn mögen die beiden sein. Sie spielen zwei Frauen, die es wohl wirklich gegeben hat. Damals, vor über 70 Jahren, irgendwo in einem deutschen KZ. "Drei", sagt das eine Mädchen. Und wirklich, die Kinder kommen - neun, zehn oder elf Jahre alt. Klammern sich am Rockzipfel ihrer "Mutter" fest. "Eins! Such dir eins aus!", sagt das andere Mädchen.

Solche Momente sind es, in denen die Zuschauer mit sich kämpfen. Dabei wirkt diese kurze Szene geradezu harmlos. Die Kinder und Jugendlichen, die sie spielen, stecken nicht in Häftlingskleidung oder Klamotten aus den Dreißigerjahren. Sie haben keine Frisuren wie damals, sie sprechen nicht die Sprache derjenigen, die wirklich in den Lagern leben mussten. Sie hungern nicht, wurden nicht aus ihren Wohnungen vertrieben. Sie sind nicht krank, gehen zur Schule, haben Eltern, fahren in die Ferien, besitzen Handys und Fahrräder, tragen Leggins, bunte Hosen und T-Shirts. "Wir werden nicht behaupten, wir wären jene Kinder und Jugendliche, die in den Konzentrationslagern starben oder Ghettos oder die versuchten zu leben dort", erklären sie dem Publikum gleich am Anfang im Chor. Sie leben in einer anderen Zeit. Und sind doch genau so wie jene, denen sie ein Theaterspiel lang ihre Stimme und ihre Persönlichkeit leihen. Sie träumen, sie denken, sie fühlen. Und betrachten die Welt mit ihren, mit Kinderaugen.

Es gibt ein andere Szene: Ein Junge und ein Mädchen halten ein Gummiband zwischen ihren Beinen gespannt. Erst an den Knöcheln, dann an den Waden. Vier kleinere Mädchen hüpfen nach geheimnisvollen Regeln, die Erwachsenen in der Regel verborgen bleiben. Gummi-Twist heißt das fröhliche Spiel. Auch im "Tumult" ist es fröhlich. Bis der Hüpf-Gummi hoch über die Köpfe der Kleinen gehalten wird. Wer von den Kindern danach greifen kann, gewinnt. Wer nicht, verliert. Ein Junge im Hintergrund reckt oder senkt den Daumen. Das Gummiband wandert mal ein wenig nach unten, meist aber nach oben. Die Kinder stehen in einer Reihe. Einer nach dem anderen kommt dran. Selektion heißt das Spiel, bei dem nicht mal das Wort "Rampe" fallen muss, um zu erzählen und zu verstehen.

Berührung durch Nähe

Tagebuchnotizen, Gedichte, Erinnerungen und Zeichnungen - authentisches Material der Theaterautorin Lilly Axster - hat Regisseurin Ulrike Lenz, die Leiterin des Kinder- und Jugendtheaters, zu einer Collage zusammengeführt. Es sind Spielszenen, die zwischen den Welten wandern. Mal sind die Kinder und Jugendlichen im Hier und Heute, mal sind sie in der Vergangenheit, an den Orten des Grauens. Doch die Grenzen verwischen. Nie ist ganz sicher, wer hier spricht: Erzählen die Kinder von sich oder von den Figuren, die sie verkörpern? Das ist Absicht. Denn diese Nähe sorgt für Berührung, ohne dass jemand anklagen oder urteilen müsste. Es reicht, zu zeigen. Und genau dafür ist Theater da.

Der Abend ist ein Versuch. Und das Stück, dem Axster den Titel "Doch einen Schmetterling hab ich hier nicht gesehen" gegeben hat, ist keine geschichtspädagogische Zusammenfassung des Lagerlebens - so grauenvoll es auch gewesen sein mag. Gerade deswegen berührt es: Kinder erzählen von den Bedrückungen, Träumen, Wünschen und auch Taten ihrer kleinen namenlosen Helden aus ihrer unbefangenen Perspektive. Kinder kriechen durch Stoffröhren, die das Kanalsystem symbolisieren, durch das die Kleinsten einst Essen ins Ghetto schmuggelten. Kinder träumen dabei so herzhaft überzeugend von der Welt über und unter der Erde wie das Rabea Pfotenhauer tut. Nein, die Träume konnten sie nicht töten, damals. Sie machen das Stück heute geradezu leicht. Dabei will es einem das Herz zerreißen. Aber es geht nicht um Mitleid. Sondern um eine andere Art des Verstehens. Denn die Frage taucht auf, am Ende des Stückes: Wie konnten die das damals nur, die Deutschen?

Ulrike Lenz, die auch in Eisenach und Meiningen gearbeitet hat, macht in Rudolstadt hoch intelligentes Kinder- und Jugendtheater. Sie motiviert ihre jungen Mitspieler zu selbstbewussten Darstellern. Und sie wählt Stücke, die sich einmischen in die Gesellschaft. Das ist große Klasse!

Weitere Vorstellungen: 15./16. Juni, 9./10. November