Zeitungs-Projekt Ein Denkmal für ein sterbendes Wohnviertel

Rolf-Dieter Lorenz

Nach drei Monaten Workshop-Arbeit legt der Suhler Verein „unoffcial.pictures“ seine erste Zeitung vor. Das Projekt beleuchtet den Stadtteil Suhl-Nord.

 
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Das Interesse an dieser einzigartigen Dokumentation über das einstige Suhler Vorzeigewohngebiet Suhl-Nord ist riesengroß. Viele Menschen sind jüngst zur Vorstellung des Ergebnisses monatelanger Recherche und Arbeit in die Kulturbaustelle gekommen. Jüngere und Menschen mittleren Alters, die in Suhl-Nord ihre Kindheit erlebt, später auswärts eine Ausbildung und einen Beruf ergriffen oder studiert haben, inzwischen aber zum Teil wieder in die kreisfreie Stadt Suhl zurückgekehrt sind. Auch viele Ältere sitzen im Publikum. Menschen, die immer noch in Suhl-Nord leben und wohnen. Senioren, die in diesem Stadtteil mehrfach oder innerhalb der Stadt in andere Wohngebiete umgezogen sind. Denn Suhl-Nord – zu DDR-Zeiten ab 1975 geplant und ab 1978 als Plattenbaugebiet mitten im Grünen aus dem Boden gestampft – ist inzwischen bis auf einige verbleibende Wohnblöcke abgerissen worden.

Fotos, Erinnerungen und Geschichten

Gleich hinter dem Vorraum und der Eingangstür zur Kulturbaustelle liegt auf einem kleinen Tisch ein riesiger Stapel bedrucktes, gefaltetes Papier – kostenlos zum Mitnehmen. Es ist kein Anzeigenblatt mit Werbeprospekten. Auch keine Tages- oder Wochenzeitung mit aktuellen Berichten, Bildern und Nachrichten aus dem Stadtteil. Es ist ein modern gestaltetes Zeitungsmagazin, eine Dokumentation mit 151 Fotos, Berichten, Erinnerungen, Erzählungen, Geschichten und Interviews von und über Menschen aus einem inzwischen zurückgebauten Stadtteil. Einer Satellitenstadt, die das SED-Regime errichten ließ, um der arbeitenden Bevölkerung, den Familien und den Zuzüglern in der damals prosperierenden Bezirksstadt nicht nur eine Berufs-, sondern auch eine Wohnperspektive zu bieten.

Unter dem Titel „Suhl Nord – Aus unserer Sicht“ beschreiben zehn Autoren und Autorinnen ihre Kindheitserinnerungen und den persönlich erlebten Alltag in Suhl-Nord: vom Aufbau, von den ersten Einzügen 1979, von persönlichen Hoffnungen, Perspektiven und Visionen. Von gemeinsamen Feiern und vom Zusammenhalt der Gemeinschaft in den Wohnblöcken. Aber auch vom Niedergang, von Entdichtung, Rückbau und Abriss sowie von Um- und Wegzügen.

Eine Auswahl der insgesamt zehn Autorenbeiträge. Marius Herzberg ist in Suhl-Nord aufgewachsen. Er nimmt die Leser mit auf einen persönlichen Spaziergang und zeigt mit vielen Fotos und Drohnenbildern aus der Luft die für ihn schönsten Ecken des Stadtteils. Auch solche, wo die Natur nach dem Abriss der ersten Wohnblöcke sich das Areal zurückerobert hat. Er beschreibt das erst 1994 eröffnete und später mehrere Jahre nach der Jahrtausendwende geschlossene Einkaufszentrum Rennsteig-Carree sowie den Kinderspielplatz nahe der kleinen Beerbergstraße, der heute noch existiert.

Annett Kenesei, ebenfalls im Plattenbaugebiet aufgewachsen, erinnert sich unter der Überschrift „Wir Kinder vom Ziegenberg“ an ihre tolle Kindheit. An viele Spielkameraden und an funktionierende Hausgemeinschaften, wo alle zusammenhielten und auch gemeinsam feierten: Fasching, Kindertag oder Weihnachten. Im Mauerfalljahr 1989 wurde die Autorin eingeschult, wechselte 1993 aufs Gymnasium an der Wendeschleife Suhl-Nord, am Kirchenwäldchen. Wenn sie heute regelmäßig ins Wohngebiet geht, um ihren Sohn dort an der einzig noch verbliebenen Schule abzuholen, bekomme sie fast so eine Art Heimweh, schreibt sie. „Heimweh nach der Platte.“

Eine Geisterstadt und viel Leere

Maik Heller berichtet über seinen erst 1987 erfolgten Einzug in eine Einraumwohnung in Suhl-Nord sowie nach seiner Eheschließung vom Umzug 1991 in eine Zweiraumwohnung. Seit seinem Geburtsjahr 1962 hatte er mehr als 23 Jahre bei den Eltern im Wohnviertel Aue 1 gelebt. „Suhl-Nord hatte fast alles, was eine Stadt haben muss“, schreibt er. „Einkaufsmöglichkeiten, einen kleinen, feinen Fußgängerboulevard mit diversen Fachgeschäften, Kindergärten und Krippen, Schulen, ein Ärztehaus, gastronomische Angebote, einen Jugendclub, Freizeit- und Sportmöglichkeiten, mehrere Spielplätze, gute Nahverkehrsanbindung im 15-Minutentakt.“ Was sei davon geblieben, fragt der Autor in seinem Zeitungsbeitrag. Eine Geisterstadt, viel Leere, viel Wildwuchsvegetation, so sein Eindruck heute.

Endzeitstimmung und Wehmut

Desireé Röhlig sieht den Stadtteil inzwischen aus zwei Blickwinkeln: einmal aus persönlicher Sicht, aber auch aus städtebaulicher Sicht. Die junge Frau hat in Suhl-Nord ihre Kindheit erlebt, ist später nach Erfurt gezogen und hat in Weimar Architektur studiert. 2016 schrieb sie im Bereich Urbanistik ihre Bachelorarbeit über den Stadtteil und spürte Endzeitstimmung, weil sie kein einziges Kind mehr sah. „Aus persönlicher Sicht ist es immer mit Wehmut verbunden, wenn man heute durch Suhl-Nord läuft“, sagt sie. Früher sei das Wohngebiet nachmittags immer voller Kinder gewesen, alle 500 Meter habe man einen Kinderspielplatz gehabt, alles sei voll gewesen, man habe da seine Freunde getroffen nach der Schule. „Genauso traurig ist es jetzt aus persönlicher Sicht, die Orte, die Spielplätze, die ich kannte, gibt es nicht mehr.“ Aus beruflicher Sicht sieht es die Autorin anders. Es sei sinnvoll gewesen, dieses Wohngebiet aufzugeben, sagt die Architektin, die inzwischen wegen ihres Partners nach Suhl zurückgekehrt ist. In ihrem Zeitungsbeitrag befasst sich Desireé Röhlig mit dem Lebensmittelpunkt Suhl-Nord, mit Baukunst und Kunst am Bau, mit der Freiflächengestaltung sowie mit der persönlichen Gestaltung der Wohnungen und Balkone, mit der die Bewohner ihre Individualität ausdrückten.

Oksana Skaletzka und Sviatoslava Andriiovska, beide sind Ukrainerinnen, haben Interviews mit Migranten geführt, die in Suhl-Nord eine Bleibe gefunden haben und ihre Meinung über den Stadtteil äußern. Anhand eines einsamen Stiefels, der mal einem Bewohner eines abgerissenen Wohnblocks gehörte, beschreiben die Ukrainerinnen ihre persönliche Reise durch Suhl-Nord. Sie endet an einem der noch verbliebenen und bewohnten Häuser, aus denen lautes Kinderlachen erschallt. Es gab und es gibt also noch Leben im Stadtteil – und damit auch die Hoffnung, dass es dort weiter Leben geben wird.

Lamprecht verteidigt Abrissbeschluss

Suhls Altbürgermeister Klaus Lamprecht (Die Linke), der seinerzeit an dem Stadtratsbeschluss zum Teilabriss von Suhl-Nord mitgewirkt hat, zeigt sich positiv überrascht von dem Projekt und dem Zeitungsmagazin. „Es spiegelt das Gefühlsleben der Menschen wider, die dort gewohnt haben. Es ist der erste Stadtteil Suhls, der leer gezogen wird“, sagt er. Der ganze Prozess sei nicht einfach gewesen, er habe auch viele Anfeindungen erlebt. Aber er verteidigt den Ratsbeschluss. Bei dem deutlichen Rückgang der Bevölkerung nach der Wende und einem Leerstand von rund 30 Prozent in Suhl-Nord habe es keine Alternative zum Teilabriss gegeben.

Lamprecht regt an, eine zweite Zeitungsausgabe zu erstellen, um zu dokumentieren, wie die Bewohner den Abrissprozess erlebt haben. Eine Idee, die vom Verein „unoffcial.pictures“ auch selbst erwogen wird. Es habe noch nie einen so ergiebigen Zeitungsworkshop gegeben, sagen die Initiatoren. Es seien so viele Texte und Fotos eingereicht worden und übrig geblieben, weil es zu wenig Platz in der Erstausgabe gab.

Diese kann schon jetzt als Denkmal für das sterbende Wohnviertel, für die noch verbliebenen Wohnblöcke und ihre Bewohner bezeichnet werden.

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