Eine Felswand, die auf der Spitze eines Bergs aus dem Wald ragt und die Silhouette eines Turms - dieser Anblick hat Hubert Steube (75) und Werner Jung (78) ihr ganzes Leben begleitet. Doch viele Jahrzehnte lang war der Heldrastein für sie unerreichbar. Ihr Heimatdorf - Heldra im hessischen Werra-Meißner-Kreis - lag in Westdeutschland, der 504 Meter hohe Heldrastein im heutigen Thüringen.

Heldra war ein besonderer Ort. Vor der Wiedervereinigung war das Fachwerkdörfchen von drei Seiten von der DDR umgeben. Bedrohlich sei das nicht gewesen. «Wir sind da reingewachsen, für uns war das normal», sagt Steube. Zusammen mit Jung steht er auf einem Hügel nahe Heldra, das heute zur Stadt Wanfried gehört, und deutet mit den Händen den früheren Grenzverlauf an.

Dass sich der Heldrastein zum Sehnsuchtsziel entwickelte, lag an Berichten aus der Zeit vor der innerdeutschen Teilung. «Meine Eltern haben immer erzählt, wie schön es war, dort hoch zu pilgern», sagt Steube. Damals standen dort ein Aussichtsturm und eine Gastwirtschaft. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte der Heldrastein sein Antlitz. Der Berg wurde Sperrgebiet. Während Steube sehnsüchtig hinauf sah, sah man vom Heldrastein eher misstrauisch hinab. Die DDR betrieb dort einen Horchposten.

Dennoch sagt auch Jung: «Die Grenze hatte für uns keinen Schrecken.» Für den 78-Jährigen war sie sogar Arbeitsplatz: Er sei «von Beruf Spaziergänger» gewesen, scherzt er. Als Zollbeamter führten Jungs Wege oft an der Grenze entlang. Bedroht habe man sich im Westen nicht gefühlt, auch wenn es manchmal habe jenseits der Sperrzone «gekracht» habe. Dann fielen Schüsse - wie sie später erfuhren durften Offiziere in dem Gebiet jagen. Manchmal galten die Schüsse auch DDR-Flüchtlinge, einmal sei ein erschossener junger Mann in der Werra gefunden worden.

Trotzdem sei die Neugier auf den Osten groß gewesen: «Wir hörten Hunde bellen, Kinder schreien, aber hatten keine Ahnung, wie es dort aussah», erinnert sich Steube. Bei den letzten Tagen vor dem Mauerfall gehen die Meinungen auseinander. Während Steube glaubte, dass der Osten bald offen ist, sah Jung das anders: «An eine Grenzöffnung habe ich nie geglaubt.»

Doch dann kam es zum Mauerfall am 9. November 1989 - und plötzlich wurde auch die Grenze zwischen Hessen und Thüringen löchrig. «Ich habe im Radio gehört, dass die Grenze aufgemacht wird», erinnert sich Steube. Bei einem ersten Versuch nach Thüringen zu gelangen, musste er noch umkehren. Der Schlagbaum war unten - und bewacht. Zwei Tage später zum Karnevalstart am 11.11. seien die Schranken plötzlich weg gewesen und er stand als «Wessi in Treffurt».

Es folgte eine verrückte Zeit. Beispielsweise habe die Musikkapelle eines thüringischen Nachbardorfs plötzlich in Heldra gestanden und es folgte ein spontaner Festzug: «So einen großen Umzug gab es noch nie», erinnert sich Steube. Jeden Abend sei sein Wohnzimmer voller Menschen aus der DDR gewesen, die Fragen hatten oder telefonieren wollten.

Jung und Steube konnten nun auch auf den Heldrastein. «Wie wir das erste Mal oben waren, ging mir das Herz auf», sagt der 75-Jährige. Der Heldrastein sollte wieder zu dem werden, was er vor der Teilung war, ein Ausflugziel. Möglich wurde das durch Steube, Jung und Hunderte weiterer Freiwilliger. Sie gründeten die Interessengemeinschaft (IG) Heldrastein, die sich für einen Umbau des Radarturms einsetzte und bis heute eine Schutzhütte dort bewirtschaftet.

1996 wurde die Genehmigung für den neuen Turm erteilt. Das Geld kam von Sponsoren. So wurde aus dem 30 Meter hohen Bauwerk, einem Symbol des Kalten Krieges, der «Turm der Einheit.» Am 3. Oktober 1990 wurde auf dem Heldrastein die Deutsche Wiedervereinigung gefeiert «am erhebensten Tag in seiner langen Geschichte», wie es in Aufzeichnungen heißt. Wenn sich am Samstag dieser Tag jährt, wird auch auf dem Berg an der Grenze von Thüringen und Hessen an diesen Moment erinnert. dpa