Nachwirkung des Krieges
Für den Dirigenten zeigt sich hier eine Nachwirkung des Weltkrieges. Nicht wenige Komponisten hätten sich damals allzu große Emotionalität geradezu verboten, weil sie nicht gewusst hätten, wie sie nach dem Schrecken überhaupt komponieren sollen. Solche künstlerischen Überlegungen aus der Nachkriegszeit sind heute natürlich weit entfernt der Realität. Mario Venzago weiß: Moderne Stücke sind nicht unbedingt beliebt beim Publikum. Vieles klingt schräg. Dennoch wird er nicht müde, zu erklären, warum auch solche Werke gespielt werden müssen: „Tradition heißt, durch etwas hindurch gehen. Wenn man Traditionen erhalten will, muss man weiter gehen, muss man sie bewegen. Nur im Neuen kann man das Alte erkennen und bewahren.“
So simpel hat in Meiningen, wo in zurückliegenden Jahren immer wieder über das moderne Regietheater und seine Sicht auf traditionelle Werke gestritten wurde, wohl noch nie jemand den musikalischen Zeitgeist verteidigt. Wohl auch, weil der Schweizer Dirigent charmant anfügt, er würde sich überglücklich schätzen, könne er mit dieser Uraufführung zum Erhalt der Meininger Traditionen beitragen, hatte er das Publikum nicht nur auf seiner Seite, sondern musikpädagogisch sogar noch ein wenig aufgeklärt. Das hört ganz anders zu, als nach der einführenden orchestralen Bach-Toccata in der populären, aber gar nicht so oft hierzulande gespielten Bearbeitung des Amerikaners Leopold Stokowski Kelterborns „Traumland“ durchs Theater rauscht. Eine Musik der feinen Nuancen.
Die vierte Sinfonie ist für die Hofkapelle natürlich Standard. Und doch lässt sich an diesem Abend nicht überhören, wie sehr Mario Venzago stürmische Leidenschaft aus dem Orchester herauskitzelt und es gleichzeitig schwelgen lässt. Eine Wallung der Gefühle, die ihn selbst an diesem Abend ergriffen hatte. Von der Begeisterung des Dirigenten jedenfalls, der die für ihn „perfekte“ Brahms-Sinfonie nie anpacken wollte, bevor er nicht Sechzig Jahr alt sein würde, lässt sich das Publikum anstecken. Und braucht es noch einen Beweis dafür, dass Berührung nicht nur aus dem Werk, sondern auch von den Musikern ausgeht – dieser Abend liefert ihn.
Nächstes Konzert: 2. Februar, Karten unter Tel.: 03693/451222