Meiningen. Die Schwäche, an der Tante Milla litt, war eine harmlose, wenngleich spezielle. Eine Schwäche, die in Deutschland ziemlich verbreitet ist. Sie litt an einer unerschütterlichen Vorliebe für ausgeschmückte Weihnachtsbäume. Höchst sensible Bäume wohl gemerkt, mit Zuckerkringeln, Gebäck, Engelhaar, Marzipanfiguren, Lametta, Glaszwergen und einem „Frieden“ hauchenden rotwangigen Engel an der Spitze. Zu sensibel für die Bombardements des Zweiten Weltkrieges. Mit jedem Luftangriff wurden die Verluste an den liebgewonnen Weihnachtsbäumen größer ...

Im lockeren Wechselspiel und ausgestattet mit reichlich Spekulatius folgte die Lesung von Schauspielerin Liljana Elges und Schauspieldirektor Dirk Olaf Hanke der feinsinnigen Erzählung „Nicht nur zur Weihnachtszeit“. Beinahe 60 Jahre sind verstrichen, seit Heinrich Böll seine ganz eigene satirische Abrechnung mit dem „Fest der Liebe“ schrieb. Damals, in den frühen 50er-Jahren, spürte er erste Wurzeln jener sinnentleerenden Übertreibung des Weihnachtsfestes auf, die wir heute vage mit „Weihnachtsstress“ oder „Konsumterror“ umreißen.

Die Zwerge hämmern

Um diese zersetzenden Wurzeln augenscheinlich zu machen, bläht Böll sie auf. Bis zum Äußersten treibt er sein literarisches Experiment, spielt sozusagen für den Leser einmal den Ernstfall durch: Was wäre, wenn jeden Tag Weihnachten wäre? Also nicht nur zur Weihnachtszeit... Denn seit einem merkwürdigen Vorfall um die Lichtmess des jungen Jahres 1947 wird im Hause von Tante Milla tatsächlich jeden Tag Weihnachten gefeiert – oder richtiger gesagt: es wird Weihnachten gespielt. Bis zur Besinnungslosigkeit. Die Zwerge hämmern, der Engel haucht „Frieden“, alle Familienmitglieder knabbern lustlos am Spekulatius, plaudern, singen gelangweilt „Stille Nacht“, gähnen noch schnell ein „frohes Fest“ und ziehen sich zurück. Exakt 38 Minuten dauert das – 38 Minuten, die sich allabendlich wiederholen.

Starr, professionell und verlogen ist die Hülle geworden, die der herzensgute Onkel Franz aufgebauscht hat, um das angeschlagene Nervenkostüm seiner durch Bomben und Tannenbäume traumatisierten Frau zu schonen. Amüsiert lauschte das spärliche Publikum kürzlich in den Meininger Kammerspielen dem zügigen Vortrag des Leserduos. Doch allmählich blieb ihm das Lachen im Halse stecken, der Humor Bölls wurde giftiger. Unter der perfekten Dauerschleife des familiären Weihnachtsidylls beginnen die Akteure zu verfallen. Nur die äußerste Disziplin des Familienoberhauptes lässt sie überhaupt noch an dem zermürbenden Schauspielritual festhalten.

In den Ruin getrieben

Wie viel Wahrheit steckt in Bölls Satire und wie viel Satire steckt in unserem Weihnachtsfest? Unweigerlich drängt sich dem Zuhörer dieser Gedanke auf, während Liljana Elges ihm in unnachahmlicher Weise immer wieder „Frieden“ entgegenhaucht. Nervenanstalt, Ehebruch und Auswanderung – Tante Millas harmlose Schwäche für geschmückte Tannenbäume und Beisammensein treibt ihre Lieben letzten Endes in den gesellschaftlichen, finanziellen wie moralischen Ruin. Schließlich existieren sie nur noch gespielt in ihren eigenen Doubeln. Die Kinder sind längst durch Wachspuppen ersetzt, welche gelegentlich einstauben. Ein Inspizient überwacht die entseelte Zeremonie.

Und Tante Milla? An ihr sind die Wogen der endlosen Weihnachtsfeste glücklicherweise schadlos vorübergezogen. Zuverlässig weilt sie zwischen ihrer Gespensterfamilie, plaudert, singt, knabbert Spekulatius. Jedenfalls: die Feier wird fortgesetzt – und das nicht nur in Tante Millas guter Stube. S. Winkel