Ilmenau "Haben das große Ziel, überflüssig zu werden"

Klaus-Ulrich Hubert

Der Sea-Watch-Aktivist und gebürtige Suhler Felix Weiß spricht über die Seenotrettung von Flüchtlingen im Mittelmeer.

 
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Eben gab es in Ilmenaus Jakobuskirche die Präsentation von Fotos und Video-Dokumentationen des 2015 gegründeten jungen zivilgesellschaftlichen Rettungs-Netzwerkes Sea-Watch. Zur Seenotrettung sind zwar laut internationalem Seerecht auch alle Küstenanrainerstaaten verpflichtet. Im Mittelmeer, an der EU-Außengrenze, jedoch leisten vor allem zivile Rettungsnetzwerke mit ihren mühsam durch Spenden finanzierten Schiffen aktiv Hilfe - und dies unter erheblichen Anfeindungen, Anklagen bis hin zu Schiffs-Stilllegungen. Welche humanistischen Werte vertritt die EU dort noch? Ein Gespräch mit dem Sea-Watch-Aktivisten und gebürtigen Suhler Felix Weiß: Er arbeitet im rund 500-köpfigen gemeinnützigen Verein u.a. als Koordinator für Medienarbeit und die zivilen Luftaufklärungsflugzeuge Moonbird und Seabird Hilfe für Menschen in Lebensgefahr.

Herr Weiß, man kann bei abendlichen Bildern der Flüchtlingsdramen und des nassen Todes an Europas Küsten den TV-Kanal wechseln, die Morgen-Zeitung beiseite legen, sich an das Elend jämmerlich ertrinkender Familien gewöhnen oder wegschauen und sagen "selber schuld", oder….

Felix Weiß: …oder eben so handeln, wie wir es im Rahmen eines internationalen Hilfe-Netzwerkes seit fünf Jahren sehr nachdrücklich tun, von der Politik auch einfordern. Unser Einsatzleiter und Vereinsvorsitzender Johannes Beyer begründete unser Credo "Retten statt reden" mit den Worten: "Europa hat sich an Bilder von Ertrunkenen und sinkenden Schlauchbooten gewöhnt. Wir können’s halt nicht und retten deshalb weiter". Um es vorweg zu sagen: Das mutige wie gefährliche Engagement von Teilen der oft zitierten internationalen Gemeinschaft und Zivilgesellschaft zur Menschenrettung auf dem Mittelmeer erscheint uns als selbstverständliche Menschenpflicht. Unsere freundlichen Gastgeber hier in ihrer schönen alten Kirche begreifen es als Christenpflicht. Wir, oftmals religionslos, sind mit denen gemeinsam, die die Gesetze einhalten, nach den eigentlichen moralischen Grundwerten handeln: Menschenpflicht eben! Wegsehen, Marine-Einheiten abziehen und einfach mal hoffen, dass die abenteuerlichsten Deals der deutschen wie gesamten europäischen Politik mit Flüchtlings-Herkunft- und Transitländern irgendwann mal fruchten? Die Völkerwanderungen der Erde sind uralt. Dass die Menschenströme, die sich auf diese gefährlichen Reisen begeben, medial so wahrnehmbar sind, ist einfach dem Rechtsruck vieler Gesellschaften geschuldet? Momentan will oder schafft die EU nicht mal eine gemeinsame Linie zur Aufnahme von Gestrandeten. Und sie schaut weg, was draußen auf dem Meer an täglichem Grauen geschieht.

Pastorin Sandra Bils sagte bei ihrer Abschlusspredigt des Evangelischen Kirchentages in Dortmund: "Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt!" Wie bringt Ihr das praktisch auf den Punkt?

Wir von Sea-Watch sind eine gemeinnützige Initiative; wirklich hoch engagierte Menschen, die sich der zivilen Seenotrettung im zentralen Mittelmeer verpflichtet fühlen. Und angesichts der nahezu täglichen und schändlicherweise sogar staatlich initiierten humanitären Katastrophe leisten wir akute Nothilfe, werden aber dabei von staatlicher Seite nicht nur durch Malta und Italien maximal kriminalisiert und behindert. Unsere Schiffe und Flugzeuge sind ja an die Kette gelegt. Wir und das Rettungs-Netzwerk "United 4 Rescue" fordern und forcieren Rettungsaktionen durch die eigentlich dafür bezahlten und verpflichteten EU-Gremien. Wir stehen für legale Fluchtwege sowie für Bewegungsfreiheit und ein solidarisches Europa ein. Wir haben das große Ziel, baldmöglichst überflüssig zu werden. Man scheint ja schon linksorientiert, weil man ja auch der üblen Haltung der … ganz … anderen politischen Seiten entgegenzutreten hat. Aber was da draußen auf dem Meer zählt, ist nicht politisches Postulieren, Abwägen und Abwarten. Und keine Sonntagsreden, hinter denen nichts Konkretes steht. Also: Retten statt - nur - zu reden! Umso großartiger, dass unsere Seenotretter-Initiativen die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) riesig unterstützt. Nicht nur mit Gebeten.
1,4 Millionen Euro kamen da unter anderem für Schiffs-Ankäufe. Das ist so klasse! Wir können ja nur durch eigene und fremde Spenden Leben retten. Inzwischen haben wir die "Sea Watch IV" unter Flagge. Samt einer Crew, die sämtliche Ansprüche an professionelle Seefahrer zu erfüllen hat. Unterstützt von Helferinnen und Helfern, die all das Elend der Geretteten und Sterbenden zu ertragen imstande sind. Die EKD-Initiative "Wir schicken ein Schiff" ist wirklich gelebte und nicht nur postulierte christliche Mitmenschlichkeit. Doch fragen Sie jetzt mal, wie es in dieser Diskussion dem Vorsitzenden des Rates der EKD, Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm, auch als Evangelischem Landesbischof Bayerns ergeht (Ilmenaus 1. Pfarrer Andreas Wucher nickt als Ohrenzeuge des Gespräches heftig): Der engagierte Kirchenmann kann sich vor Shitstorms kaum retten, bekommt gar Morddrohungen! Aber das nehmen er und so viele Menschen letztlich in Kauf, die eine Vorstellung davon haben, wie es ist, wenn Menschen vom Kind bis zum Greis vor einem ertrinken oder mangels trinkbarem Wasser in der Sonnenhitze verdursten. Europa verliert seine Seele, seine Werte, wenn es das toleriere, sagte der EKD-Vorsitzende. Und dass das staats-egoistische Prinzip "Hauptsache nicht bei uns vor der Tür" zutiefst dem christlichen Menschenbild widerspreche. Dreißig Jahre, nachdem in Deutschland die Grenze fiel, haben wir EU-Länder die tödlichste Außengrenze der Welt. Seit 2014 sind nach offiziellen Angaben weit über 20.000 Menschen im Mittelmeer gestorben. Aber daran glaube ich nicht. Nach allem Erlebten gehe ich von der doppelten Zahl aus. Mindestens! Die Dunkelziffer, wie viele Boote vom Monitoring unbemerkt untergehen, das kann man noch ergänzen: Anhand der Leichen und Reste, die von der Strömung im Ferienland Tunesien angetrieben kommen. Anhand von deren Zustand und Anzahl lässt sich zuordnen, wie groß ihre Boote gewesen sein dürften.

Hier im Strafrecht gilt zum Paragraphen "Unterlassene Hilfeleistung" auch der Zusatz: "Ebenso wird bestraft, wer in diesen Situationen eine Person behindert, die einem Dritten Hilfe leistet oder leisten will." Gibt es noch extremere Fälle als die Festsetzung von zivilgesellschaftlichen Rettungs-Schiffen samt Crew, wie in Italien oder immer mehr auch auf Malta?

So viel Platz haben Sie auf Ihrer Seite nicht. Die Dokumentationen der EKD-Initiative "Wir schicken ein Schiff" und auf unserer Vereins-Homepage erschüttern jeden normalen Menschen. Sea-Watch und das Border Violence Monitoring Network haben dem Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen einen gemeinsamen Bericht über die andauernde Verletzung des internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte beispielsweise durch Malta vorgelegt. Denn trotz dessen Ratifizierung verstoßen die andauernden illegalen Rückführungen von Flüchtenden durch Malta oder beauftragte Drittparteien nach Libyen eklatant gegen Völkerrecht. Und in den schlimmen Auswüchsen des offensichtlichen stillen EU-Deals mit dem kriegszerrütteten Libyen und dessen "Küstenwachen" war unsere "Sea Watch III" mittendrin. Ein Beweis mehr, wie andere, die von uns, vom Watch-The-Med-Alarmtelefon und anderen internationalen Organisationen, gesammelt wurden.

Denn mitten in eine ohnehin schon dramatische Rettungsaktion von uns bretterte solch ein libysches Patrouillenschiff zwischen uns und die ertrinkenden Menschen im Wasser. Es gab dadurch zusätzliche Tote. Eine Schande, eine solche Schande! So "schützt” der maltesische Staat die Rechte derer, die endlich die maltesische Such- und Rettungszone erreichen: Nämlich gar nicht! Es wurde Aufklärung über die UN gefordert zu den Vorkommnissen des mutmaßlichen Pushbacks und der illegalen Rückkehr von 63 Menschen aus der maltesischen Such- und Rettungszone am 12. April 2020 - mit Booten, die vermutlich von der maltesischen Regierung in Auftrag gegeben wurden. Ebenso wegen 87 Menschen aus der maltesischen Such- und Rettungszone, die am 30. Januar 2020 und am 24. Juli 2020 durch die sogenannte libysche Küstenwache nach Libyen zurückverschleppt wurden. Die Liste ist lang. Unsere Crew hat erlebt, wie die Flüchtende an Bord geschlagen wurden von einer "Küstenwache", die eher einer Privat-Miliz mit EU-Sold zu gleichen schien.

In Ihrer Video-Dokumentation eben im Altarraum zeigten Sie, wie Sea-Watch die Flüchtlingsboote nach der Menschenrettung zerstörte und versenkte. Warum das?

Na weil diese Investitionen übler Schlepper- und Schleuser-Organisationen, die sie sich von den horrenden "Überfahrtgebühren" der Elenden vergolden lassen, ansonsten Richtung Tunesien und so weiter abtreiben und nochmal genutzt werden. Noch mal zu dieser ominösen Libyschen Küstenwache: Was die und Italien mit allen möglichen "Mängeln" an unseren absolut seetüchtigen, ehemaligen südkoreanischen Hochseefischerei- und anderen Schiffen veranstalten, das braucht starke Nerven unserer Crews, gestandener Seeleute und Kapitäne. Nicht immer gibt es so große internationale Aufmerksamkeit wie im Juni 2019 bei der Verhaftung unserer Kapitänin Carola Rackete. Mit 53 Geretteten auf unserer "Sea Watch III" und nach wochenlangem Warten auf Einlaufgenehmigung ließ sie in der Nacht zum 29. Juni trotz eines Verbots durch italienische Behörden Anker lichten, in den Hafen der Insel Lampedusa einlaufen. Übrigens: Die Italiener haben sogar die Lackschichtdicke der Bordwände nachgemessen, um es uns ans Zeug zu flicken. Uns hatte eine lybische "Küstenwache" zudem mal angekreidet, dass wir zu viele Rettungswesten an Bord hätten. Unsere Schiffs-Traglast beträgt 450 Leute, sonst droht echt Manövrierunfähigkeit. Aber klar, für weitere Einsätze hatten wir natürlich mehr als 450 Westen bevorratet. Die ließen uns echt aufstoppen. Grund: "Sie haben von vornherein mehr Flüchtende aufnehmen wollen". Ist so, als wenn die Polizei hier Ihre Fahrerlaubnis einzieht, weil es sein könnte, dass Sie morgen grob die Vorfahrt missachten werden (lacht). Die bisher aktive "Sea-Watch III" liegt derzeit in unserem Stamm-Hafen nahe Valencia in Spanien, unsere neue "Sea-Watch IV” ist administrativ festgesetz in Palermo auf Sizilien. Obwohl das wohl die einzige Stadt Italiens zu sein scheint, die uns noch wohlgesonnen ist, samt Bürgermeister Leoluca Orlando, (lacht) einer richtig coolen Socke. Auch unser Leichtbauflieger "Moonbird”, der mit eigenem Team zur Ortung von Booten aus der Luft seit 2017 mit in meinem Logistikbereich liegt, wurde am Boden festgesetzt, wo er vor sich hin korrodiert, täglich teurer wird.

Politische Öffentlichkeitsarbeit; zivilgesellschaftliche Hilfe aus dem Herzen und mit Taten: Gab es auch Situationen, dass nicht alle von den übervollen Booten gerettet werden konnten?

Es gab bei NGOs anderer schon Grenz-Situationen, weil überladene Schiffe Gefahr für alle bedeuten. Aber keiner wurde sich selbst überlassen, man kam tags darauf bei Tageslicht zurück, um die Zurückgelassenen aus den Rettungsinseln zu holen. Da gilt es gut auszuwählen: Die Menschen sind in total kritischen Zuständen, haben Schlimmes auf ihren Fluchten erdulden müssen, sind bis zur Rettung oft dehydriert und traumatisiert, seekrank, kaum noch ansprechbar.

Welche Rolle spielt die Handelsschifffahrt, die ja zur Seenotrettung verpflichtet ist?

Wir koordinieren nicht nur unsere Sea-Watch-Rettungsaktionen, sondern auch mögliche Hilfen seitens der Handelsschifffahrt, sprechen Koordinaten sogar mit den Reedereien ab. Aber selbst bei den großen Pötten gibt’s Helfende und Weiterfahrer. Denn die Kapitäne der oft zitierten christlichen Seefahrt sind im bösen Zwiespalt, immer mit einem Bein im Knast: Sie müssten retten, dürfen aber die Geretteten nicht in Häfen abladen, weil sie von so streng katholischen Staaten wie Malta und Italien dann kriminalisiert werden. Ich kann’s nicht anders formulieren: Aber die Situation der Flüchtenden, im Schiff so praktisch gefangen zu sein und zu vergammeln, ist menschenunwürdig.

Wie geht das mit Ihrer Luftaufklärung per Leichtflugzeug nun weiter?

Unsere tolle EU: Wir dürften zurzeit nur noch von Griechenland, Korsika oder Mallorca fliegen. Gibt aber eine Riesen-Mehrbelastung der Crew, weil von dort die Mission extrem lange dauert. Da bleiben nur zwei Stunden Absuche im Einsatzgebiet, ein Bruchteil der An- und Rückflugzeit. Der Forderung der EU-Küstenländer, nur einer Aufnahme Geflüchteter zuzustimmen, wenn auch die anderen einer EU Lösung zustimmen, stehen ja allein schon Polen, Ungarn und Kroatien im Wege. Wenn wir es hinkriegen, dass endlich staatliche Seenotrettung greift, wären wir happy, gingen alle fröhlich nach Hause. Wir sind außer unser Profi-Personal weder ausgebildet noch liquide dafür, das dauerhaft durchzustehen. Dass die Kirche unser Verbündeter wurde, ist sehr wichtig. Wir treffen deshalb demnächst sogar den Papst! Ihre Grüne Ilmenauer Landtagsabgeordnete Madeleine Henfling sagte mir gerade, dass sie ja auch evangelisch sozialisiert sei und dass auch Ihr Pfarrer der Katholischen Kirche hier das Retter-Anliegen unterstützt, was ihr vor Jahren noch undenkbar erschienen sei. Sie sei aber andererseits geschockt, wie mancher aus dem kirchlichen Kontext oder sogar dem "C” im Parteinamen gegen die Menschenrettung argumentiere. Doch, ich sag es nochmal, dass es unfassbar gut ist, Rückhalt von den Kirchen zu bekommen, inzwischen sogar von Kirchenoberhäuptern auf Malta. Und hier bei uns, da zählt jeder Spenden-Euro, solange sich EU-Regierungen nicht wirklich den Kampf gegen das unwürdige und grausige Sterben im Mittelmeer auf ihre Fahnen schreiben.

Interview: Klaus-Ulrich Hubert

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