Heimliche Herrscher der Welt Wunderbare Welt der Pilze

Markus Brauer

Pilze gehören zu den ältesten und vielfältigsten Organismen. Ohne sie würde das Leben auf der Erde buchstäblich an sich selbst ersticken. Faszinierende Einblicke in das unendliche Reich der Fungi.

 
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Der Fliegenpilz (Amanita muscaria) ist eine giftige Pilzart, die 2022 von der Deutschen Gesellschaft für Mykologie zum Pilz des Jahres gewählt wurde. Foto: Imago/Blickwinkel

Der Herbst ist Pilz-Zeit. Pilze sucht man ab dem Spätsommer bis in den Spätherbst hinein. Pfifferling, Steinpilz, Stockschwämmchen, Speisemorchel, Violetter Rötelritterling, Mohrenkopf-Milchling und Riesenschirmling gehören zu den beliebtesten Speisepilzen der Deutschen. Aber Vorsicht beim Sammeln im Wald: Mancher Speisepilz hat einen giftigen Doppelgänger.

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Im Reich der Fungi

Pizza Fungi. Foto: Imag//Shotshop

Wer seiner Lieblings-Pizzeria eine Pizza Funghi bestellt, kann ohne Bedenken genießen. Schmackhafte, aromatische Champignons, in feine Streifen geschnitten, auf dünnem Hefeteigfladen verteilt, der im Ofen knusprig gebacken und heiß verzehrt wird. Dass man mit jedem Bissen nicht nur einen kulinarischen Genuss erlebt, sondern auch ein Wunderwerk der Evolution verspeist, dürfte nur wenigen Pizza-Liebhabern bewusst sein.

Champignons und Hefe gehörennämlich zum faszinierenden Reich der Pilze. Obwohl sie äußerlich Pflanzen ähneln, sind Pilze nicht Teil der Botanik, sondern bilden neben der Pflanzenwelt (Flora), dem Tierreich (Fauna) und den Einzellern (Protozoen) eine eigene Lebensform – Fungi. So lautet der lateinische Name für Pilze.

Seit der Antike wurden Pilze zu den Pflanzen gezählt, obwohl sie mit den Tieren weit mehr gemein haben. Der amerikanische Biologe und Klimatologe Robert Whittaker war der Erste, der im Jahr 1969 vorschlug, Pilze als eine eigene Gruppe zu klassifizieren.

Pilzen fehlen spezifische botanische Merkmale wie Wurzeln, Blätter, Samen und Früchte. Auch haben sie Zellwände, die im Gegensatz zu Pflanzen nicht aus Zellulose, sondern aus Chitin bestehen – einem Stoff, der auch im Panzer von Schalentieren, Insekten und Spinnen enthalten ist.

Evolutionsgeschichtliche Wunderwerke

Gemeiner Steinpilz (Boletus edulis) im herbstlichen Laubwald . Foto: Imago/Karina Hessland
Maronen Roehrling Foto: Imago/APress
Blick auf ein farbenfrohes Ensemble herbstlicher Pilze: Birkenpilz zwischen Fliegenpilzen. Foto: Imago/Rech

Wenn man die filigranen Fruchtkörper samt Hut und Stil vorsichtig ablöst, hält man nur den winzigen oberirdischen Teil des Pilzes in der Hand. Der eigentliche Organismus, der Vegetationskörper, liegt verborgen im Erdreich, im Holz eines Baumes oder in einem anderen Substrat, in dem der Pilz siedelt.

Pilze haben für das Leben auf der Erde eine derart große Bedeutung, dass dieses ohne sie so nicht existieren könnte. Um zu verstehen, wie wichtig diese wandelbaren Wesen sind, muss man tief in die Evolutionsgeschichte und Mikrobiologie eintauchen. Pilze sind wahre Überlebenskünstler, die selbst unter extremsten klimatischen Bedingungen überleben können.

Einzellige und mehrzellige Eukaryoten

Pilzkulturen in einer Petrischale im Labor. Foto: Imago/Cavan Images

Als Eukaryoten kommen sie als Einzeller (wie die Backhefe) und als Mehrzeller (wie Champignons) vor. Eukaryoten bilden eine von drei großen Organismen-Gruppen – neben Bakterien und Archaebakterien, den sogenannten Prokaryoten, Lebewesen ohne Zellkern –, die sich im Verlauf der Evolutionsgeschichte entwickelt haben.

Charakteristisches Kennzeichen der Eukaryoten sind ihre komplex aufgebauten Zellen mit Zellkern und verschiedenen Organellen, die Organe der Zelle darstellen.

Pilzfäden durchwuchern den Waldboden

Pilze sind wahrhaft gigantische Lebensformen: So kann ein gerade mal vier mal vier Zentimeter großer Brocken Waldboden Hyphen – die fadenartigen Vegetationsorgane von Pilzen – von zwei Kilometern Länge enthalten. Foto: Imago/Nature Picture Library
Dieses Gewirr fadenförmiger Zellen– auch Myzel genannt –, das den Boden durchwuchert und riesige unterirdische Flächen bedecken kann, ist der eigentliche Pilz. Foto: Imago/Adrian Davies
Von Pilzen befallenes Totholz. Foto: Imago/Stephen Dalton

Wenn ein Pilz nicht als Einzeller existiert wie beispielsweise die Hefe, sondern sich aus vielen Zellen zusammensetzt, dann bildet er ein Geflecht aus winzigen Pilzfäden - den Hyphen. Dieses Gewirr fadenförmiger Zellen (auch Myzel genannt), das den Boden durchwuchert und riesige unterirdische Flächen bedecken kann, ist der eigentliche Pilz. Die unterschiedlich geformten hut-, keulen- oder knollenförmigen Fruchtkörper sind nur das markante Erkennungsmerkmal und bilden zugleich die Fortpflanzungsorgane mehrzelliger Pilze.

Die äußerlich eher unscheinbaren Pilze sind eine wahrhaft gigantische Lebensformen: So kann ein gerade mal vier mal vier Zentimeter großer Brocken Waldboden Hyphen von zwei Kilometern Länge und mehr enthalten. Ein einzelner Bovist zum Beispiel – ein schmackhafter Speisepilz – kann mehrere Billionen Sporen ausstoßen, die kilometerweit in die Höhe fliegen.

Pilze ernähren sich von organischen Substanzen

Pilze an Totholz. Foto: Imago/Dominik Kindermann
Ein Fliegenpilz, der selbst von Pilzkulturen befallen ist. Foto: Imago/Imagebroker
Riesenschirmpilz in der herbstlichen Heide. Foto: Imago/Zoonar

Außerdem sind Fungi nicht grün wie Blätter. Sie enthalten kein Chlorophyll – ein natürlicher Farbstoff, der von Pflanzen gebildet wird, die Fotosynthese betreiben. Anders als Pflanzen sind Pilze nicht in der Lage, Zucker aus Sonnenlicht, Kohlendioxid, Wasser und Blattgrün herzustellen. Sie müssen sich ähnlich wie Tiere heterotroph, das heißt von anderen organischen Substanzen ernähren, um zu überleben.

Pilze sind genauso wie Bakterien fantastische Entsorger und Resteverwerter. Sie zerlegen und zersetzen organisches Material wie tote Lebewesen, Exkremente und Laub und führen die einzelnen Bestandteile in den Kreislauf des Lebens zurück. Aus organischem Abfall bilden sie Humus, die Grundlage für jedes Pflanzenwachstum. Ohne sie würden Wälder und andere Ökosysteme an den Unmengen anfallender organischer Stoffe buchstäblich ersticken.

Symbiotische Gemeinschaft mit anderen Organismen

Von Sonnenlicht durchfluteter Pilzkörper. Foto: Imago/Chromorange

Viele Pilzarten bilden symbiotische Lebensgemeinschaften mit anderen Organismen. Diese perfekte Zusammenarbeit funktioniert beispielsweise so: Die Pilzfäden umspinnen die Wurzeln eines Baumes und bilden einen Mantel, über den die Pflanzenwurzeln Nährstoffe und Wasser aus dem Boden aufnehmen. Der Pilz wiederum profitiert, indem er aus den Wurzeln Mineralien und organische Stoffe herauslöst.

Diese Art des Zusammenlebens artverschiedener Organismen bezeichnet man auch als Mykorrhiza oder Pilzwurzel. Rund 90 Prozent aller Landpflanzen leben in solchen komplexen symbiotischen Gemeinschaften.

Pilze sind die wahren Titanen auf dem Planeten – im Großen wie im Kleinen. So ist die einzellige Bäckerhefe, die wie Trüffel, Morcheln und einige Schimmelpilzarten zu den Schlauchpilzen gehört, mit einem Durchmesser von fünf bis zehn Mikrometern eine der kleinsten Fungi. Der größte bekannte Pilz – und zugleich das größte Lebewesen überhaupt – ist ein Dunkler Hallimasch, der im US-Bundesstaat Oregon wächst. Das Geflecht dieses mehr als 2000 Jahre alten Riesen erstreckt sich über eine Fläche von neun Quadratkilometern, sein Gewicht wird auf 600 Tonnen geschätzt.

Mehr als 100 000 Pilzarten sind bekannt

Zwei Pilze leuchten bläulich in der Abenddämmerung. Foto: Imago/Panthermedia
Pilzkulturen. Foto: Imago/Agefotostock
Von einem Pilz befallener Baumstamm. Foto: Imago/Photo Homepage

Bis heute sind mehr als 100 000 Pilzarten bekannt: von Ständerpilzen wie dem Champignon und Schlauchpilzen wie dem bei Rosenzüchtern gefürchteten Mehltau-Pilz über Jochpilze, die Brot, Kartoffeln und Obst verschimmeln lassen, bis zu Töpfchenpilzen. Letztere stellen die ältesten Arten im Reich der Fungi dar.

Pilzforscher (Mykologen, vom Griechischen „mýkes“ für Pilz) schätzen, dass es mehr als 1,5 Millionen Pilzarten gibt. Zum Vergleich: Von den Säugetieren existieren kaum mehr als 4000 Arten.

Unglaublich, aber wahr: Pilze sind mit dem Menschen näher verwandt als mit den Pflanzen. Evolutionsgeschichtlich haben Fungi und Homo sapiens gemeinsame Vorfahren. Vor rund zwei Milliarden Jahren lebten in den Urmeeren die ersten Vielzeller. Aus ihnen entwickelten sich im Lauf von Hunderten Millionen von Jahren unterschiedliche Spezies: Die eine war mobil, konnte Nahrung aufnehmen und verdauen – die Tiere. Die andere konnte sich nicht fortbewegen und lebte von dem, was andere Organismen übrig ließen – die Pilze. Es waren Überlebensstrategien, die sich in der Evolution durchsetzten. Und durch die Pilze zu den heimlichen Herrschern der Welt wurden.

Parasitäre Pilze sind gefürchtet

Zierliche Gelbflechte: Flechten sind eine symbiotische, also für verschiedene Arten nützliche Lebensgemeinschaft zwischen einem oder mehreren Pilzen, den so genannten Mykobionten. Foto: Imago/Blickwinkel
Ein von Pilz befallener Maiskolben. Foto: Imago/Michael Gstettenbauer
Dauerregen hat 2023 die Weizenernte erschwert. Zu viel Feuchte, Pilzbefall und austreibende Keimblätter führten zur Qualitätsminderung in der Weizenernte. Foto: Imago/Agrarmotive

Pilze sind äußerst anpassungsfähige Geschöpfe. Ihr Stoffwechsel ist auf organische Substanzen anderer Lebewesen angewiesen. Pilze, die als Resteverwerter von abgestorbenen organischen Substanzen leben, nennt man Saprobionten oder Fäulnisbewohner. Pilze, die auf lebende Organismen angewiesen sind, werden als Parasiten bezeichnet. Die dritte, für Speisepilze wichtige Gruppe wurde bereits erwähnt: Es sind die Symbionten, die mit ihren Wirten eine Zweckgemeinschaft eingehen und deren Wachstum fördern.

Parasitäre Pilzarten sind zu Recht gefürchtet. Da sie sich nicht nur von totem, sondern auch von lebendigem Material ernähren, richten diese Pflanzenschädlinge großen wirtschaftlichen Schaden an. Kartoffelfäule, Apfelschorf, Birnengitterrost, Obstbaumkrebs oder Echter Mehltau sind nur einige der rund 10 000 durch Pilze verursachten Pflanzenkrankheiten. Ein anderer berüchtigter Parasit, der Echte Hausschwamm, hat schon viele Hausbesitzer zur Verzweiflung gebracht. Er befällt bevorzugt verbautes Holz und gilt als einer der gefährlichsten Gebäudezerstörer.

Pilze als Heil- und Rauschmittel

Petrischale mit einem Penicilin-Abstrich: Natürliche Penicilline werden von Schimmelpilzen wie beispielsweise „Penicillium chrysogenum“ gebildet Foto: Imago/Pond5 Images
Illustration von Magic Mushrooms. Foto: Imago/Wirestock

Pilze können aber auch heilen und berauschen. In China gelten Shiitake, Glänzende Lackporling und Igel-Stachelbart seit Jahrhunderten als traditionelle Heilmittel. 1928 entdeckte der schottische Arzt und Bakteriologe Alexander Fleming per Zufall das erste Antibiotikum. Er nannte es Penicillin – nach dem Schimmelpilz Penicillium chrysogenum, der auf verdorbenen Nahrungsmitteln gedeiht und eine Substanz produziert, die Bakterien abtötet.

Sehr viel älter ist die Verwendung von Pilzen als Rauschmittel. Schon vor rund 6000 Jahren schätzten sibirische Schamanen die Ekstase-auslösenden und psychodelischen Eigenschaften von Amanita muscaria, dem Fliegenpilz.

Etwa zur gleichen Zeit nutzten die alten Sumerer Hefepilze, um Bier zu brauen. Ein anderes berauschendes Getränk lässt sich aus dem vergorenen Saft der Beeren von Weinreben gewinnen. Bei der Gärung wird der Zucker im Most durch die Hilfe von Hefepilzen zu Alkohol.

Ob Pizza Funghi, Trollinger, Blauschimmelkäse oder Pils – es geht nichts ohne Pilze.