Handball-EM der Frauen THC-Trainer Müller kritisiert deutsche Vorrunden-Auftritte

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THC-Trainer Herbert Müller Foto: Gerhard König

Trotz des Erreichens der Hauptrunde bemängelt Müller die Leistungen der deutschen Handball-Frauen bei der EM in Dänemark.

 
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Erfurt - Herbert Müller (58) führt seit über zehn Jahren erfolgreich die Geschicke beim Handball-Bundesligisten Thüringer HC, feierte mit dem Verein sieben Meistertitel. Parallel dazu betreut er die österreichische Frauen-Nationalmanschaft. Demzufolge verfolgt der Coach die aktuelle EM in Dänemark mit Argusaugen. Im Interview mit unserer Zeitung kritisiert er die bisherigen Auftritte der deuschen Mannschaft scharf, hebt Norwegen auf den Favoriten-Thron, lobt eine seiner drei EM-Spielerinnen und äußert einen überraschenden Wunsch.

Herbert Müller, die deutsche Mannschaft hat nur mit viel Mühe die Vorrunde überstanden. Wie bewerten Sie das bisherige Abschneiden?

Das Resultat, sprich das Erreichen der Hauptrunde mit zwei Punkten, passt. Aber das Auftreten war bislang blamabel, fast ein bisschen peinlich. Wir haben eine leichte Gruppe erwischt, haben zum Auftakt gegen dezimierte Rumäninnen geradeso gewonnen, dann gegen Norwegen einen katastrophalen Auftritt hingelegt und gegen ersatzgeschwächte Polinnen, die nur ein zweitklassiges Team verkörpern, mit Glück unentschieden gespielt. Nach dem 23:42 gegen Norwegen fehlen mir noch immer alle Worte, das hat mich stark an das 0:6 der Fußball-Nationalmannschaft gegen Spanien erinnert. So darf eine Handballnation wie Deutschland nicht auftreten. Also: Rein vom Ergebnis her ist es in Ordnung, das Auftreten aber ganz schwach. Wir haben den Anspruch, im internationalen Maßstab die Lücke zur Weltspitze zu schließen. Doch bislang war die EM ein Rückschritt auf diesem Weg.

Wo hapert es?

Ich glaube, es fehlt an den Basics. Dinge wie Aggressivität in der Deckung, Umschaltspiel oder das Lösen von 1:1-Situationen. Wir haben auf manchen Positionen, ich denke da an die Außen, zu wenig Auswahl. Wir Deutschen sind im Handball weniger vom Talent gesegnet und brauchen dafür harte Arbeit. Erschwerend kam die komplizierte EM-Vorbereitung dazu, aber das betraf alle Nationen.

Welche Chancen hat die deutsche Mannschaft in der Hauptrunde?

Gute. Ich habe die Hoffnung, dass sie ins Turnier reinwächst und durch einen Erfolg am Samstag gegen Ungarn Rückenwind bekommt. Diese EM hat neben Corona einige Unbekannte, wie die Ergebnisse in der Parallelgruppe mit Weltmeister Holland zeigen. Dass hier Kroatien ungeschlagen als Gruppensieger weiterkommt, hatte niemand erwartet.

Sie haben mit einer Ausnahme bislang alle 24 EM-Spiele gesehen. Wer wird Europameister? Russland?

Mein aktueller Tipp ist Norwegen. Sie spielen wie aus einem Guss. Frankreich ist eine Turniermannschaft. Russland ist stark, aber sie sind zuletzt regelmäßig im Halbfinale denkbar unglücklich gescheitert. Dänemark als Gastgeber muss man noch auf der Rechnung haben.

Vor der EM hatten sie arge Befürchtungen ob der Corona-Pandemie. Sind Ihre Ängste zerstreut?

Ja, die Dänen haben alles im Griff.

Vom Thüringer HC sind mit Ina Großmann, Marketa Jerabkova und Marie Davidsen drei Spielerinnen bei der EM dabei. Wie bewerten Sie deren Auftritte?

Marketa und Tschechien sind zwar ausgeschieden, haben aber ein starkes Turnier gespielt. Trotz drei Niederlagen konnten sie in jedem Spiel überzeugen. Marketa war überragend, solange ihre Kraft reichte. Dass sie mit 22 Treffern die Torschützenliste anführt, ist kein Zufall. Marie stand bei Norwegen nur als Ersatz parat. Sie ist mittlerweile von der EM abgereist, hat eine Woche frei und stößt dann wieder zu unserer Mannschaft. Ina hat noch nicht viel Einsatzzeit bekommen. Sie muss auf ihre Chance warten und diese dann nutzen. Sie ist eine absolute Teamplayerin und hilft der Mannschaft immer mit ihrer Emotionalität.

Wie nutzen Sie mit Ihrer THC-Mannschaft die EM-Pause?

Wir haben nach dem letzten Spiel in Blomberg ein paar Tage frei gemacht und sind seit zwei Wochen wieder voll im Training. Dabei steht die Athletik im Vordergrund, es ist eine Art zweite Vorbereitung. Läuferisch haben wir durchaus noch einige Defizite. Wobei der Ball jetzt immer mehr dazukommt.

Am 27. Dezember, also in gut zwei Wochen, steht bereits die Bundesliga-Partie gegen den verlustpunktfreien Tabellenführer Borussia Dortmund an. Ist das Spiel schon in Ihrem Hinterkopf?

Natürlich, und die Zeit bis dahin vergeht blitzschnell. Wir werden gegen die aktuell beste deutsche Mannschaft alles abrufen müssen, um konkurrenzfähig zu sein.

Wie bewerten Sie den bisherigen Saisonverlauf des Thüringer HC?

Der Start mit 11:1 Punkten war stark, danach war es enttäuschend mit einigen unnötigen Niederlagen. Uns fehlt die Konstanz. Daran müssen und werden wir arbeiten.

Im rechten Rückraum fehlt Ihnen eine typische Linkshänderin die pro Spiel vier, fünf Tore wirft. Sind Sie hier auf der Suche nach Verstärkung?

Ja, das sind wir. Aber in Corona-Zeiten hat die wirtschaftliche Seite absolute Priorität. Alles, was wir bislang angedacht hatten, hat sich zerschlagen. Diese Position ist in der Tat unsere Achillesferse, denn sie bringt das ganze Konzept durcheinander. Kerstin Kündig, die eigentlich Rückraum Mitte spielen soll, muss halblinks aushelfen. Und Marketa, die lieber halblinks spielt, muss so in die Mitte rücken.

Sie haben die besten 24 europäischen Mannschaften derzeit genau unter der Lupe. Wenn Sie kurz vor Weihnachten einen sportlichen Wunsch frei hätten: Wen würden Sie aus dem Weltklasse-Sammelsurium auf der rechten Rückraumspielerinnen gern verpflichten?

Da muss ich gar nicht lange überlegen. Ich würde die deutsche Julia Meidhoff nehmen. Sie ist zwar noch nicht Weltklasse, hat aber einen Riesensprung seit ihrem Wechsel im Sommer von Bensheim-Auerbach nach Bietigheim gemacht. Ich arbeite sehr gern mit jungen, entwicklungsfähigen Spielerinnen zusammen. Wir beim THC hatten sie natürlich auch auf dem Radar, aber unsere finanziellen Waffen waren sehr stumpf.

Interview: Thomas Sprafke

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