Gedenkveranstaltung Vor 70 Jahren: Entscheidung mit gravierenden Folgen

Grenzen, die töten und ausgrenzen, seien Verbrechen, Unrecht und Sünde zugleich und gehören auf den Müllhaufen der Geschichte. Das sagte Berthold Dücker am Freitag in der Gedenkstätte Point Alpha bei einer Veranstaltung anlässlich der innerdeutschen Grenzschließung vor 70 Jahren.

 
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Vor 70 Jahren hatte die DDR-Führung beschlossen, die innerdeutsche Grenze zu schließen. Wenig später wurden die ersten Familien aus dem Sperrgebiet zwangsausgesiedelt. Daran wurde am Freitag mit einer Gedenkveranstaltung in der Gedenkstätte Point Alpha bei Geisa erinnert.

Am Denkmal der deutschen Teilung und Wiedervereinigung legten die thüringische und die hessische Landesregierung, die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und die Point-Alpha-Stiftung Kränze nieder, zum Gedenken an die Opfer der Teilung und der ersten Zwangsaussiedlungsaktion „Ungeziefer“. Der Fischerhof, einer der geschleiften Höfe, befand sich in unmittelbarer Nähe. „Wir haben diesen Ort bewusst für den Start unserer Gedenkveranstaltung ausgewählt“, sagte Benedikt Stock, Geschäftsführender Vorstand der Point-Alpha-Stiftung.

Schicksale erforschen und öffentlich machen

„Das Einzige, was die innerdeutsche Grenze den Menschen zufügte, war Leid. Die Maßnahmen brachten der DDR nichts“, erklärte Stock, als er wenig später in der Fahrzeughalle der Gedenkstätte Point Alpha die Gäste begrüßte. Die Stiftung werde daher auch weiterhin alles tun, um die Schicksale der Menschen in der einstigen Grenzregion zu erforschen und öffentlich zu machen. Die Gedenkfeier am Freitag in der Rhön war Teil der Veranstaltungsreihe „Der Schnitt“ des Thüringer Geschichtsverbundes und der Stiftung Naturschutz Thüringen. Musikalisch umrahmt wurde sie von „Sax and More“ unter Leitung von Martin Genßler.

Brutaler Eingriff in Grundrechte

Am 26. Mai 1952 hatte die DDR-Regierung die Entscheidung zur Abriegelung der innerdeutschen Grenze getroffen. „Das hatte gravierende Folgen für die Menschen in beiden deutschen Staaten“, sagte Tina Beer, Thüringer Staatssekretärin für Kultur. Die Grenze habe Kulturräume und Familien auseinander gerissen. Sie erinnerte ebenfalls an die Zwangsaussiedlungen, und für viele sei diesem Trauma das Trauma der Ausgrenzung gefolgt. „Auch wenn ich, Jahrgang 1987, die Diktatur nicht bewusst mitbekommen habe, kenne ich viele Geschichten und kann die Situation daher gut nachempfinden. An dieses Unrecht muss erinnert werden“, erklärte sie. Der 26. Mai 1952 verdeutliche eindrücklich, wie brutal der SED-Staat in die Grundrechte seiner Bevölkerung eingegriffen habe. Die Erfahrung der Teilung habe mehrere Generationen beiderseits der Grenze nachhaltig geprägt. Dass sich die Bürger mit diesem Kapitel Geschichte auseinandersetzen, sei für die Zivilgesellschaft in der heutigen Zeit wichtiger denn je. Tina Beer forderte, die politische Bildung der Bevölkerung weiter zu stärken.

Ein Stück Frieden

Fast 390 000 Menschen waren von der 1952 eingerichteten Sperrzone betroffen, erklärte Franziska Kuschel, Leiterin des Arbeitsbereichs Wissenschaft bei der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Der kleine Grenzverkehr wurde unterbunden, Straßen und Eisenbahnlinien getrennt, Tausende wurden zwangsumgesiedelt, oftmals nach willkürlichen Entscheidungen. „Die Zwangsausgesiedelten bekamen keine Nachricht, was ihnen eigentlich vorgeworfen wurde, und sie hatten keine Gelegenheit, dagegen Widerspruch einzulegen“, so Kuschel. Das Wissen der Zeitzeugen zu vermitteln, sei wichtiger denn je, „wenn man sieht, wie Diktaturen ihre Interessen mit Gewalt durchzusetzen versuchen, auch gegen die eigene Bevölkerung“, betonte sie und würdigte die Bildungs- und Forschungsarbeit der Gedenkstätte Point Alpha.

„Als wir vorhin am Denkmal standen, sahen wir nicht mehr den heißesten Punkt im Kalten Krieg. Es waren keine Soldaten mehr da, keine Gewalt mehr im ehemaligen Borderland. Wir hatten einen guten Blick und sahen ein Stück Frieden“, meinte Peter Wurschi, Thüringer Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. 1952 seien hier in der Nähe nach der Grenzschließung Menschen verschwunden, „die waren einfach nicht mehr da“. Als der damalige Staats- und Parteichef Walter Ulbricht im Juli 1952 den „Aufbau des Sozialismus“ verkündete, bedeutete dies letztendlich Stalinismus, Enteignung, Verstaatlichung. „Wer dabei störte, musste weg – entweder ins Gefängnis oder mehr oder weniger freiwillig durch Flucht. Jenen, die blieben, wurden Grenzen aufgezeigt“, erklärte Wurschi. Die Erinnerungen zu teilen sei das, was man als Nachgeborener noch tun könne – „um diese Erinnerungen wachzuhalten und richtige Entscheidungen treffen zu können“.

„Nie wieder Grenze!“

Berthold Dücker, Journalist, ehemaliger Chefredakteur der Südthüringer Zeitung und Gründungsinitiator der Gedenkstätte Point Alpha, hielt am Freitag die Gedenkrede. „Heute müssen wir über Grenzen reden und was sie mit den Menschen machen“, sagte er und erinnerte daran, was die Schließung der Grenze vor 70 Jahren für die Bevölkerung in der beschaulichen Rhön bedeutete. „Da waren auf einmal Familien getrennt, die nur einen Steinwurf voneinander lebten. Freundschaften zerbrachen zwangsläufig“, betonte Dücker. Kinder konnten ihre Eltern nicht mehr treffen, Neffen und Nichten ihre Onkel und Tanten nicht mehr. „Man war plötzlich ausgesperrt, weggesperrt, das hatte traumatische Auswirkungen.“ Getrennt waren auch Gemeinschaften auf Vereinsebene, im gesellschaftlichen, kirchlichen und kulturellen Bereich. „Mir, Jahrgang 1947, läuft immer noch ein Schauer über den Rücken, wenn ich das Wort ,Grenze’ höre“, erklärte Berthold Dücker. Die Grenze habe auch sein Leben geprägt, seine Überzeugung, seinen Glauben, sein ganzes Tun. „Nicht nur, weil ich sie mit viel Gottvertrauen als junger Mensch überwinden konnte, sondern auch, weil ich nach 30 Jahren mit heißem Herzen wieder heimkehren konnte“, sagte der Geisaer und forderte dazu auf, die einzig richtige Lehre aus der Zeit des Grenzregimes zu ziehen: „Nie wieder! Niemals wieder eine solche Grenze, weder in unserem Land, noch sonst wo auf der Erde.“ Das sei auch die alles übertönende Botschaft von Point Alpha. Die Friedensspirale verkünde diese Botschaft in drei Sprachen, „und, als hätten wir es damals geahnt, auch in Russisch“.

„Keine gewöhnliche Staatsgrenze“

Berthold Dücker erinnerte an die geschleiften Höfe und die Zwangsaussiedlungsaktionen – Willküraktionen der SED und der Stasi gegen Teile des eigenen Volkes mit den Namen „Ungeziefer“ und „Kornblume“. Letzterer Name klinge auf den ersten Blick harmlos, aber wer sich in der Landwirtschaft auskenne, wisse, dass Kornblumen dort als Unkraut gelten. Die Aktionen sollten die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzen. „Pass auf, was Du sagt, die bringen uns sonst um Haus und Hof, hörte ich sehr oft von meinen Eltern“, erinnerte er sich. Umgekehrt habe es die Angst der Herrschenden vorm eigenen Volk gegeben, und im Herbst 1989 sei diese Angst den Funktionären ins Gesicht geschrieben gewesen. Dass es 33 Jahre nach der Grenzöffnung immer noch nur grobe Schätzungen über die Zahl der Grenzopfer gebe, ist für ihn ein „himmelschreiender Skandal“. Und von den Menschen, die auf der Flucht über die Ostsee oder auf dem Balkan sterben mussten, rede heute niemand mehr.

Die vor 70 Jahren gezogene Grenze sei keine gewöhnliche Staatsgrenze gewesen, die den Frieden sicherte, und auch kein Schutzwall vor Feinden. „Dann hätte sie umgekehrt aufgebaut werden müssen und nicht mit Zäunen, Minen und Sperrgräben zum eigenen Volk hin. Nein, diese Grenze war ein Monstrum der Macht eines verdorbenen Systems, ein Verbrechen am eigenen Volk und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, betonte Berthold Dücker. Das dürfe man niemals vergessen, „wenigstens das sind wir den zahlreichen Opfern schuldig“. Er mahnte: „Wir sollten die Nase voll haben von Diktaturen, egal in welchen Farben, sollten die Nase voll haben von Willkür und Hass und von Grenzen, egal wo sie gezogen werden. Menschen sollten frei sein. In der Bibel heißt es: Vor Gott sind alle Menschen gleich.“ Die Würde des Menschen sei unantastbar – ohne Einschränkung. Grenzen, die töten und ausgrenzen, seien Verbrechen, Unrecht und Sünde zugleich und gehörten deshalb auf den Müllhaufen der Geschichte.

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