Jörg wusste nach seinen ersten Rechertchen: "Arnstadt, wo in der Pogromnacht die Synagoge brannte, wie auch das nahe Plaue hatten vor dem Massenmord der Nazis starke jüdische Gemeinden - mit vielen hoch angesehenen Bürgern."
Verrottete Grabsteine
In einer der oberen Gräberreihen erinnert ein Stein an Hermann Aron Ehrlich. Jörg: "Der war Lehrer, Kantor, Komponist, Musiker, Zeitungsherausgeber. Seine Tochter Charlotte heiratete in Plaue Abraham Mendel, sie zogen dann nach Arnstadt."
Kaps fiel bei Recherchen auf: "Wenn es überhaupt Überlebende gab, fand ich deren Nachfahren in den USA, in Israel, Argentinien, Chile, England, Uruguay. Und auch wieder in Deutschland." Wer hier vor 100 Jahren friedlich bestattet wurde, ahnte vorher kaum, dass fast die ganze Folge-Generation seiner Familie im deutschen IG-Farben-Gas oder auf andere Weise ermordet würde.
So machte sich Jörg Kaps zuerst für den befreundeten Nachfahren von Holocaust-Überlebenden nach Plaue auf und erschrak: "Wie das hier aussah!" Auf knöchelhoch verrotteten Laubresten sei er ausgerutscht wie auf Glatteis: "Weil darunter die Reste einer polierten, zertrümmerten Grabplatte gelegen hatten. Die Gebeine von Rica Jonas ruhten laut Inschrift darunter. Ich habe das Plattenfragment freigelegt, fand ringsum immer mehr Teile davon. Thüringens Jüdische Gemeinde ließ sie schließlich restaurieren."
Nur drei Meter entfernt in der nächst-tiefer gelegenen Gräberreihe mühte sich Jörg schließlich, Inschriften zu finden, die aber nur noch auf der Grabstein-Rückseite eingraviert waren. Als habe einst jemand geahnt, dass mal die vorderseitigen Platten aus Bronze oder Granit mit den Angaben der Verstorbenen als Altmetallreservoir oder Packmaterial genutzt werden könnten.
Viel Bewuchs setzte sich hier auf der Nordseite des Berges mit der mittelalterlichen Ehrenburg am Gestein fest. Doch dann konnte Jörg nach Übersee kabeln: "Mann, David Robert, ich hab die Grabstelle Deiner Urgroßmutter Rika gefunden!" Wie es um den als Kulturgut eigentlich geschützten und per Staatsvertrag mit Israel durch den Freistaat zu pflegenden Friedhof bestellt war, wollte Kaps im Detail besser nicht seinem Freund in Übersee erzählen.
Wohl aber der Stadtverwaltung. Dabei hatte es dann "aber schon ein paar ... sagen wir mal eigentümliche Gespräche mit einer Mitarbeiterin gegeben", erinnert sich Jörg. Mit Bürgermeister Jörg Thamm sei indes die Zusammenarbeit sehr gut geworden. Der ließ auch die umgekippten Steine wieder aufrichten.
Wie auch den von Hermann Aron Ehrlich aus Berkach im Grabfeld. Von dessen Grabstelle harken die Jungen und Mädchen jetzt gerade gemeinsam mit ihrer Klassenleiterin Gundula Sehrt Laub und Unrat zusammen. Nachher kommt der Gemeinde-Multicar, entsorgt alles.
Engagierte Schüler
"Und morgen kommt eine siebte Gymnasialklasse. Sie übernimmt nach fast einem halben Jahrzehnt das Ehrenamtsprojekt meiner Jungen und Mädchen", strahlt Gundula, deren Füße in Gummistiefel stecken. Nachts hatte es wie aus Eimern gegossen, der durchweichte Boden klebt allen unter den Sohlen. Als Klassenleiterin, Deutsch- und Kunstlehrerin ist Gundula Sehrt ein wenig stolz, dass ihre jungen Leute hier nicht nur einfach Besen, Harke und Schaufel schwingen. "Seit die in der Siebenten über Anne Franks Schicksal so nachhaltig tief erschüttert waren, haben sie das Rassismus-Thema nicht einfach als Unterrichtsstoff, als notwendiges Übel abgehakt."
So fanden die Interessen der Schüler auch mit denen des Freizeitengagements von Stadtjugendpfleger Kaps für den Erhalt des alten Judenfriedhofes zusammen. Der ist für ihn und die Schüler längst viel mehr als nur die Ansammlung alter Steine.
Lebendige Geschichts-Vermittlung, das weiß Gundula Sehrt, führt auch über das Rückwärts-Erkunden des Lebens der Toten. Und heutiges Wachbleiben gegen Neonazi-Umtriebe: "Die jungen Leute haben im Rahmen von Projekten auch jüdische Schicksale der Region erforscht. Und Jörg Kaps? Mit seinen Vor-Ort-Recherchen zum regionalen Judentum ist der uns dabei immer wichtiger Ansprechpartner gewesen."
Dies ist er auch in seinem Engagement für die Aktion "Stolpersteine" in Arnstadt. Mit der wird - wie auch in anderen Städten - auf Fußwegen vor Häusern an die Schicksale zumeist jüdischer Nazi-Opfer erinnert. So gibt man deren Leben und Sterben buchstäblich Name und Hausnummer zurück. Einmal jährlich sammeln Sehrts Schüler für einen weiteren Stolperstein: "Hier lebte bis ..."
Allein für die ermordeten Familienmitglieder der Ehrlichs, "deren Vorfahren hier oben liegen, brauchte es in Arnstadts Thomas-Mann-Straße ein Dutzend Stolpersteine", so Jörg. Weil Arnstadt keinen eigenen jüdischen Friedhof hatte, wurde eben hier in Plaue bestattet.
Gleich haben es die Ehrenamts-Friedhofspfleger wieder mal geschafft mit ihrer Sommeraktion: Schräg gegenüber von Rika Jonas Grabresten mit der - sicher nicht von selbst zerbrochenen - Grabplatte ein deutsches Soldatengrab. Geziert von einem großen Eisernen Kreuz; die Namenstafel auch hier weg. Und die sterblichen Überreste darunter?
Unter bislang etwa 130 jüdischen Menschen, deren Schicksale Jörg erkundete, ist auch Max Katzenstein, Feldhilfsarzt im Ersten Weltkrieg. Mit 26 Jahren nicht ganz in Frieden gestorben, denn er gilt als Gefallener des vor 100 Jahren begonnenen Gemetzels. Auch wenn offiziell am 25.Dezember 1916 im Krankenhaus Arnstadt verlautete, er sei wohl "in belgischem Feindesland" an einer Lungeninfektion erkrankt. Zeitzeugen ließen indes durchblicken, es seien Folgen eines Giftgaseinsatzes mit Senfgas gewesen.
"Nun danket alle Gott"
Als vor 100 Jahren in Berlin Tausende nach Kaisers Kriegsrede ("Dass unser gutes deutsches Schwert siegreich aus dem Kampfe hervorgehen wird.") zum Domglocken-Klang den Choral "Nun danket alle Gott" anstimmten, war auch der jüdische Feldhilfsarzt Katzenstein bereit, für sein deutsches Vaterland zu sterben.
Für Jörg Kaps ist das einer von Millionen irrwitziger Fälle des Nazi-Rassenwahns: Dass zwar der ehrenwerte Arzt letztlich wohl durch Folgen eines Front-Giftgaseinsatzes starb - doch bald auch Millionen seiner jüdischen Mitbürger. Bis zuletzt an ihre frühere Anerkennung als Schutz glaubend, bevor sie in Giftgaskammern gepfercht und mit ihren Kindern, Frauen, Müttern erstickt wurden. "Das macht es so wichtig, unsere Erinnerung an den gewaltsamen Bruch im Leben Millionen unserer früheren Mitbürger zu wahren."
Stunden später sammelt wieder die Harken, Besen und Schaufeln von den Schülern ein. Manch einer von ihnen war wohl nicht zum letzten Mal hier.