Thüringen Mehr Veränderung wagen

Von Bodo Ramelow
Gastbeitrag: Bodo Ramelow, Linke, Thüringer Ministerpräsident Quelle: Unbekannt

Nur wenn es sich als soziale Einwanderungsgesellschaft begreift, hat Thüringen eine Zukunft: So reagiert Ministerpräsident Bodo Ramelow auf den Gastbeitrag von CDU-Partei- und Fraktionschef Mike Mohring vom 23. Juli.

 
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Ich habe mich gefreut, als Mike Mohring einen kritischen Beitrag zu meiner "Jenaer Rede" veröffentlicht hat, auch wenn ich mit seinem Nein zum Leitbild einer sozialen Einwanderungsgesellschaft gerechnet habe. Aber ich kenne und schätze den Oppositionsführer und weiß, dass er mehr kann, als er hier abgeliefert hat.

Sein Beitrag ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie die Thüringer CDU ein Vierteljahrhundert Politik gemacht hat. Er verwendet 8000 Zeichen darauf, mir sozialistische Umgestaltungsfantasien anzudichten und der Welt mitzuteilen, dass in Thüringen alles so bleiben kann wie es ist. Kein einziger Satz gilt der Frage, was zu tun ist, damit Thüringen auch in Zukunft ein starkes Land bleibt, das seinen Bürgern eine lebenswerte Heimat ist. Das war das zentrale Thema der "Jenaer Rede".

Möglicherweise hat die Thüringer CDU noch nicht realisiert, dass sie 2014 auch deshalb die Regierungsverantwortung verloren hat, weil ihr Politikstil zuletzt vor allem darin bestand, die nächste Schulter zu suchen, auf die man selbstverliebt klopfen kann. Ja, in Thüringen wurde viel geleistet, das Land steht gut da, die Arbeitslosigkeit sinkt, die Löhne steigen. Wir sind mit Beginn dieses Jahrzehnts in eine Phase der Landesentwicklung eingetreten, in der wir selbstbewusst den Anspruch erheben können, zu den deutschen Motor-Regionen vorzustoßen. Kann denn dann nicht wirklich alles so bleiben, wie es derzeit ist? Nein! Es gibt nach wie vor eine massive regionale und soziale Spaltung in ganz Deutschland, die sich zum Beispiel darin ausdrückt, dass die Lohn- und Renteneinheit immer noch nicht vollzogen ist. Thüringen geht es gut, aber damit es den Thüringern besser geht, müssen wirklich alle etwas vom Erfolg des Landes spüren.

Die Landesregierung hat ein Paket von jahrelang verschobenen Groß-Reformen in Arbeit. Wir werden eine Verwaltungs-, Funktional- und Gebietsreform anpacken, die dazu führen muss, dass die Personalressourcen des Landes und der Kommunen weniger dafür eingesetzt werden, sich selbst zu verwalten, sondern effizienteren Dienst für die Bürger zu leisten. Die CDU verteidigt mit ihrem starren Festhalten an einer veralteten Verwaltungsstruktur nicht die Interessen der Bürger, sondern offensichtlich die Amtssessel ihrer Bürgermeister und Landräte. Ein Land, das mit begrenzten Ressourcen neue Herausforderungen meistern muss, ist dazu verpflichtet, sich die Frage zu stellen, ob staatliches Handeln so effizient ist, wie es die Bürger verdienen. Es geht bei dieser Reform nicht um die Euros in der Kasse und die Grenzen auf unserer Landkarte, sondern um die Lebensqualität im Land. Nicht anders gehen wir an andere Groß-Reformen wie die Theaterreform heran. Wir wollen die Kleinstaaterei überwinden.

Der kraftvolle Thüringer Motor braucht eine Karosserie, die seiner Leistungsfähigkeit entspricht. Da geht es nicht nur um zukunftsfähige Strukturen, sondern auch um eine zuverlässige Infrastruktur und die Gewinnung von Personal, das wir für einen leistungsfähigen Staat brauchen. Wir brauchen heute Investitionen für morgen und werden die Schuldenbremse so anwenden, dass sie diese Investitionen nicht behindert.

Wir haben in Thüringen eine Opposition, die am selben Tag früh "Mehr, mehr, mehr!" schreit, egal um welche Ausgaben es geht, um nachmittags der Landesregierung Verschwendungssucht und Schuldenpolitik vorzuwerfen. Und wir haben einen Oppositionsführer, der seine vornehmste Pflicht darin sieht, Behauptungen zu verbreiten, wie isoliert Thüringen in Berlin angeblich ist. Fakt ist, dass Thüringen aktuell den höchsten Haushaltsüberschuss der mitteldeutschen Länder aufweist und in der Bundespolitik aktiver mitmischt als in 25 Jahren CDU-Herrschaft. Wir nehmen einen überfälligen Umbau in Angriff und geben ihm die Richtung: mehr Zukunftsinvestitionen, mehr sozialer Zusammenhalt, mehr Bürgerorientierung in der Verwaltung, weniger Kleinstaaterei. Rot-Rot-Grün wird die Herausforderung annehmen. Weil es nicht bleiben kann, wie es ist, wagen wir mehr Veränderung.

Die Achillesferse der Landesentwicklung ist die Bevölkerungsentwicklung. Immer noch stattfindende Abwanderung, zu wenig Zuwanderung und eine zu geringe Geburtenzahl führen zu tausenden unbesetzten Lehrstellen. Ein eklatanter Bewerbermangel in immer mehr Branchen, ein schmerzhafter Personalmangel in allen Dienstleistungsbereichen, nichts davon wird besser, wenn wir abwarten. Deshalb haben wir die Inklusion zum obersten Ziel der Thüringer Arbeitsmarktpolitik erklärt. Deshalb schaffen wir mit den Landesarbeitsmarktprogrammen neue Stellen für Langzeiterwerbslose als Brücke in den ersten Arbeitsmarkt. Deshalb werden wir in Zukunft viel mehr Augenmerk darauf legen, dass arbeitslose Jugendliche ohne Ausbildungsplatz eine neue Chance bekommen.

Aber selbst wenn es uns gelingt, alle Reserven zu mobilisieren, brauchen wir in den nächsten zehn Jahren eine sechsstellige Zahl von Menschen, die als Fachkräfte zu uns kommen, um überhaupt das erreichte Niveau von Wohlstand, Wirtschaftsentwicklung und sozialer Infrastruktur halten zu können. Wir brauchen jede fleißige Hand und jeden schlauen Kopf. Niemand wird so naiv sein, zu glauben, dass Flüchtlinge unser Arbeitskräfteproblem lösen. Nein, dieses Problem lösen wir nur, wenn wir die Migration nach Deutschland endlich gesetzlich regeln und unser Staatsbürgerrecht modernisieren. Ein Zuwanderungsland braucht ein Einwanderungsgesetz. Dazu müssen eine Investitionsoffensive in die Infrastruktur, ein Ausbau der sozialen Sicherheit zum Schutz der sozialen Grundgewissheiten sowie eine von unten organisierte und geförderte Integration treten. Thüringen wird in den nächsten Jahren das Wachsen lernen. Es wird nicht gleich der Sozialismus ausbrechen, wenn wir an ein paar Stellen Investitionen nachholen und den Menschen soziale Sicherheit geben, damit sie ihre eigenen individuellen Träume verwirklichen können. Davor muss die Thüringer CDU keine Angst haben.

Eine Politik, die das Land nach vorn verändern will, muss die historischen Brüche, in denen wir leben, mit allen Zumutungen und Chancen benennen, ohne die Illusion zu verbreiten, es gäbe ein Zurück in gute alte Zeiten. Flüchtlinge sind nicht der "Hebel für ein anderes Deutschland", wie Mike Mohring schreibt. Es sind Menschen, die meist in Not und Angst hierhergekommen sind. Thüringen muss sich verändern, um Fremde als Bereicherung zu erkennen. Angst muss man vor denen haben, die Ängste schüren. Wir müssen bestehende Ängste ernst nehmen, den Menschen klar machen, wie die Hausordnung bei uns ist, und denen das Handwerk legen, die Häuser anstecken. Thüringen duldet weder Gewalt von Ausländern noch an Ausländern. Thüringen duldet gar keine Gewalt. Weltoffenheit geht nur mit offenen Herzen.

Die Integration von Flüchtlingen und Zuwanderern ist Teil eines gesellschaftlichen Modernisierungsprojekts. Es ist nicht so, dass wir nur die Wahl zwischen offenen Grenzen für alle oder einem abgeschotteten Land haben, in dem die Skrupellosen die Ängstlichen regieren. Meine Vision ist die einer sozialen Einwanderungsgesellschaft, in der sich sozialer Fortschritt, wirtschaftliche Transformation und kulturelle Modernisierung vereinen. Die Geschichte kennt keinen Rückwärtsgang. Thüringen hat sich in zweieinhalb Jahrzehnten zu einem Aufsteigerland gemausert. Wir sind Zuwanderungsland. Als soziale Einwanderungsgesellschaft haben wir eine Zukunft, in der unser Land eine sichere Heimat für alte und neue Thüringer ist.

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