Heute lassen sich die Regenwürmer nicht blicken. Sie wollen den Kindern diesen Gefallen einfach nicht tun. Dabei sind sie quicklebendig. Kindergärtnerin Sylvia Volkmar hält ein durchsichtiges Gefäß ins Licht. Da drin sind sie. Vorübergehend. Doch nichts tut sich. Nur die Gänge in der Erde künden davon, dass sie wirklich da sind.

Für die 17 Kinder dieser gemischten Gruppe des Schweinaer Fröbelkindergartens ist das wahnsinnig aufregend. Vor Tagen haben sie alle eine Handvoll Erde mitgebracht und sie ins Gefäß gefüllt. Und fertig war es: das Regenwurm-Zuhause. Seither stehen die vier Bewohner täglich unter Beobachtung und sorgen unter den Knirpsen für reichlich Gesprächsstoff.

Auch Sylvia Volkmar ist begeistert von der Reaktion ihrer Kinder. „Sie haben die Tiere gemalt“, zeigt sie auf die Bilder an der Wand. Aber auf einem sind nur schwarze Striche zu sehen. Die Kindergärtnerin erzählt: „Die anderen fragten das Mädchen, welches das Bild gemalt hatte: Was soll das sein? Schlagfertig verteidigte sich das Kind: ,Das ist Erde. Ihr könnt sie nicht sehen. Die Regenwürmer haben sich versteckt.‘“

Über diese Fantasie hätte sich ganz gewiss auch Friedrich Fröbel gefreut. Als er vor 175 Jahren den ersten Kindergarten in Blankenburg gründete, wünschte er sich, dass dort aufgeweckte Kinder den Tag verbringen und beim Spiel die Welt entdecken. Gerade diese frühkindliche Bildung, wie es Fachleute heute nennen, war ihm sehr wichtig. Und auch, dass Kinder das Spiel, Zeit und Raum brauchen, um sich entwickeln zu können.

Wer mit Ulrike Leuthold, die den Kindergarten in Schweina leitet, durchs Haus geht, spürt es überall im historischen Fachwerkhaus mit seinem modernen Anbau: Hier lebt Fröbel. Bei jedem Spiel der Kinder ist er dabei. Und seine Idee vom Kindergarten ist aktueller denn je. Besonders im Schweinaer Kindergarten, einem der acht Fröbel-Modellkindergärten in Thüringen.

Wo sonst sollte Fröbels Erbe auch besser aufgehoben sein? Im Marienthaler Schlösschen in Schweina gründete er die erste Kindergärtnerinnenschule der Welt. Und auf dem Friedhof des Ortes fand er im Jahr 1852 seine letzte Ruhe.

Ulrike Leuthold ging selbst einmal in den Fröbelkindergarten. Heute ist er in kommunaler Hand und Heimstatt für fast 100 Knirpse. Zwölf Kindergärtnerinnen betreuen sie. Warum aber sind Fröbels Erkenntnisse noch immer modern? Was haben sich die Schweinaer von ihm abgeschaut? Ulrike Leuthold antwortet darauf: „Er sah das Kind als Kind und nicht als kleinen Erwachsenen. Er war dagegen, Bildung zu verordnen und Kinder von außen mit Wissen vollzustopfen. Vielmehr setzte Fröbel auf deren Kreativität. Er wollte, dass sich das Kind aus sich selbst heraus entwickelt, mit all seinen Ideen und Begabungen.“ Doch im Selbstlauf funktioniert das nicht. Es braucht aufmerksame Beobachter und Zuhörer, die erkennen: Was interessiert das Kind, womit beschäftigt es sich gerade und wie kann man daraus entsprechende Bildungsangebote machen?

So entstand auch das Regenwurmprojekt. Ein Kind brachte von zu Hause einen vertrockneten Regenwurm mit. Damit begann alles. Im ganzen Haus wurden Regenwurmlieder und -bücher zusammengesucht. Der Regenwurm stand Modell. Er wurde geknetet, gefädelt, gemalt, und die Kinder bewegten sich wie er.

Muster an Muster

Zu Fröbels Bildungskonzept gehören auch eigens von ihm entwickelte Spielgaben. Kugel, Würfel und Walze sind wohl die bekanntesten. Sie sind schlicht, aber unwahrscheinlich variabel. Alles ist logisch aufeinander aufgebaut, regt mathematisches und physikalisches Denken an und weckt zugleich den Sinn für Schönheit und Natur. Man muss es nur erkennen.

Ziegelsteine aus farblosem Holz zum Beispiel haben Maxim, Tilman und Alwin für sich entdeckt. Sie haben daraus eine lange Straße und eine große Brücke gebaut. „Hoffentlich bleibt sie stehen“, bangt Tilman. Während die Jungs als Baumeister agieren, prickeln die Mädchen. Mit Nadeln stechen sie vorsichtig kleine Löcher in ein Blatt. Aus den Punkten werden schließlich Figuren. „Das ist eine gute Ausdauer-Übung, die Feinmotorik und Kreativität schult“, erklärt Ingrid Zimmer. Andere holen sich lieber die bunten Muggelsteine. „Die Kinder entscheiden selbst, womit und was sie spielen wollen“, sagt die Kindergärtnerin. Die Legetäfelchen lassen sich zu den verschiedensten Formen aneinanderreihen. Es entsteht Muster für Muster. Und wieder hat Fröbel seine Hände im Spiel. Ulrike Leuthold erläutert weshalb: „So lässt sich gut erkennen, wie sich Einzelnes zum Ganzen fügt oder das Ganze sich in Einzelnes zerlegt.“ Hanna und Marie falten Briefe, Schiffe, ja sogar Fotoapparate aus Papier. Kindergärtnerin Ingrid Zimmer schaut den Mädchen über die Schulter und bastelt mit. Sie hat – wie ihre Kollegin Marlies Nürnberger auch – nach einer speziellen Fortbildung sogar ein sogenanntes Fröbelzertifikat erworben.

Jaret und Delia aus der Gruppe von Marlies Nürnberger sind ganz ins Flechten am Flechttisch vertieft. Doch plötzlich lassen sie die Bänder fallen. Ein Junge betritt mit seiner Mutter den Raum. Es ist Harry aus Australien. Er besucht derzeit seine Großeltern in Schweina. Im Kindergarten muss er unbedingt vorbeischauen. Schließlich war er dort im vorigen Jahr Gastkind. Nun bricht großer Jubel aus. Harry und Delia liegen sich in den Armen. Der englisch sprechende Junge und das Mädchen aus Rumänien sind beste Freunde. „Gemeinsam haben sie im Zusammenleben und im Spiel mit den anderen Kindern sehr schnell Deutsch gelernt“, berichtet Ulrike Leuthold.

Und sie präsentiert noch ein anderes Gemeinschaftswerk: einen Zoo, ausschließlich gebaut aus Fröbel-Steinen. Er nimmt den Boden eines ganzen Zimmers ein. Die Kindergärtnerin erzählt: „Wenn Gäste zu uns kommen, dann staunen sie und fragen häufig: Wieso gibt es hier so wenig Spielzeug?“ Besucher sind immer mal im Schweinear Fröbelkindergarten – sogar aus dem fernen Japan. Sie verehren Fröbel und besinnen sich gern auf den Thüringer Reformpädagogen, vielmehr als die Deutschen selbst. Die Kinder im Fröbelkindergarten brauchen keine fertigen Spielsachen, wie Bauernhöfe, Ritterburgen oder Puppenstuben, sie erschaffen sie sich selbst – ganz nach ihren eigenen Vorstellungen und Wünschen. Sie benötigen dazu lediglich Bausteine, Kreativität, konstruktives Wissen, Regeln, Raum, Zeit und ganz viel Verständnis.

Der Rundgang durch den Fröbelkindergarten endet dort, wo er begann, in der Gruppe der kleinen Regenwurm-Beobachter. Pappkartons lagern in der Ecke. Flugs verwandeln sie die Kinder in ein Piratenschiff, als sie den Raum betreten. Der Kommentar von Kindergärtnerin Sylvia Volkmar: „Weniger ist mehr.“

Kugel, Walze, Würfel – das Fröbel-Symbol

Kugel, Walze und Würfel sind Bestandteile der zweiten Fröbel’schen Spielgabe. Im Vergleich zur ersten, dem Stoffball, vermittelt das Material Holz dem in seiner Entwicklung fortschreitenden Kind nun Festigkeit und Stabilität.

Würfel und Kugel symbolisieren das entgegengesetzt Gleiche, die Kugel die Bewegung und der Würfel das Feststehende. Die Walze stellt faktisch die Vermittlung zwischen beiden dar. Bereits in seinem Werk „Menschenerziehung“ hatte Fröbel festgestellt: „Jedes Ding und Wesen, alles aber wird nur erkannt, wenn es mit dem Entgegengesetzten seiner Art verknüpft, und mit demselben die Einigung, Übereinstimmung, Gleichung gefunden wird, und die Erkenntnis geschieht umso vollkommener, als die Verknüpfung mit dem Entgegengesetzten und die Auffindung des Einigenden geschieht.“ M. Brodbeck