Nach dem politischen Beben bei der Wahl zum Ministerpräsidenten in Thüringen dringt die CDU-Spitze in Berlin auf Neuwahlen. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer machte der eigenen Fraktion im Thüringer Landtag am Mittwoch scharfe Vorwürfe. Die CDU-Abgeordneten hätten ausdrücklich gegen die Forderungen und Bitten der Bundespartei gehandelt, indem sie mit der AfD einem FDP-Kandidaten ins Amt halfen. Sie plädierte für eine neuerliche Wahl im Freistaat - sieht sich aber gleichzeitig Angriffen ausgesetzt, die eigene Partei nicht im Griff zu haben. Der Thüringer CDU-Fraktion sprach sich sogleich gegen Neuwahlen aus. «Wir sehen unsere Verantwortung darin, Stillstand und Neuwahlen zu vermeiden.»

Zuvor hatte das Parlament in Erfurt für eine historische Zäsur gesorgt: Erstmals kam ein Ministerpräsident mit entscheidender Hilfe der AfD ins Amt. Der FDP-Politiker Thomas Kemmerich setzte sich völlig überraschend gegen den bisherigen Amtsinhaber Bodo Ramelow (Linke) durch. Die CDU hätte das Ergebnis mit Enthaltungen aus den eigenen Reihen verhindern können, stimmte aber ebenfalls für Kemmerich.

Die Entscheidung zwischen Kemmerich und Ramelow fiel denkbar knapp aus. Auf den bisherigen Regierungschef entfielen 44 Stimmen, Kemmerich erhielt 45 Stimmen. Der parteilose AfD-Kandidat Christoph Kindervater bekam im dritten Wahlgang keine Stimme - auch nicht aus der AfD-Fraktion von Björn Höcke, dem Gründer des rechtsnationalen «Flügels» der AfD, der vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall im Bereich Rechtsextremismus eingestuft wird.

Deshalb sehen sich die Christdemokraten auch im Bund nun mit harten Vorwürfe konfrontiert. Mit ihrem Wahlverhalten trügen CDU wie FDP eine klare Verantwortung für ein abgekartetes Spiel, sagten die SPD-Chefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Die Wahl sei abgesprochen gewesen und müsse korrigiert werden. «Insbesondere an die CDU-Führung im Bund haben wir in diesem Zusammenhang eine Reihe von dringenden Fragen, die wir sehr zügig in einem Koalitionsausschuss stellen werden», machte die SPD klar. «Danach werden wir in den Parteigremien beraten.» Walter-Borjans betonte: «Da kann sich niemand in den Berliner Parteizentralen wegschleichen.»

SPD-Vize Klara Geywitz griff Kramp-Karrenbauer an. Das Ergebnis zeige, wie wenig Einfluss sie auf ihren Landesverband habe, sagte sie der Neuen Berliner Redaktionsgesellschaft.

Der Thüringer CDU-Chef Mike Mohring wies jede Verantwortung für das Wahlergebnis von sich: Seine Fraktion habe sich in den ersten beiden Wahlgängen enthalten und im dritten den «Kandidaten der Mitte» gewählt. «Fakt ist: Wir sind nicht verantwortlich für die Kandidaturen anderer Parteien, wir sind auch nicht verantwortlich für das Wahlverhalten anderer Parteien», sagte er.

CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak kritisierte dagegen, die Thüringer Abgeordneten hätten billigend in Kauf genommen, «dass durch ihre Stimmabgabe ein neuer Ministerpräsident auch mit den Stimmen von Nazis wie Herrn Höcke und anderen der AfD-Fraktion in Thüringen gewählt werden konnte». Die FDP habe mit dem Feuer gespielt und Thüringen sowie das ganze Land politisch in Brand gesetzt. Die Wahl sei keine Grundlage für eine stabile Regierung und für bürgerliche Politik. «Das Beste für Thüringen wären Neuwahlen.»

Nach dem überraschenden Wahlausgang schaffte es die FDP zunächst nicht, eine neue Regierung zu präsentieren. Die eigentlich für Mittwoch angekündigte Ernennung der Minister wurde verschoben. Während Mohring Kemmerich eine Zusammenarbeit anbot, erklärten SPD, Grüne und Linke bereits, nicht mit der FDP regieren zu wollen. Die AfD dagegen zeigte sich offen, Gesetzesvorhaben der Kemmerich-Regierung zuzustimmen.

FDP-Vize Wolfgang Kubicki wertete das Ergebnis als großen Erfolg für Kemmerich. «Ein Kandidat der demokratischen Mitte hat gesiegt», sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Doch nicht alle in seiner Partei zeigten sich begeistert: Die Bundestagsabgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann kritisierte Kemmerich scharf: «Ich verstehe seinen Wunsch, Ministerpräsident zu werden. Sich aber von jemandem wie (Björn) Höcke (AfD) wählen zu lassen, ist unter Demokraten inakzeptabel und unerträglich», schrieb sie auf Twitter.

Grünen-Chefin Annalena Baerbock forderte Kemmerich zum umgehenden Rücktritt auf. Tue er das nicht, müssten CDU und FDP auf Bundesebene die Thüringer Landesverbände ausschließen. Linken-Chef Bernd Riexinger sprach von einem «Tabubruch» und plädierte ebenfalls für Neuwahlen. Dafür wäre in Thüringen eine Zwei-Drittel-Mehrheit nötig, etwa mit Stimmen von CDU, SPD, Linken sowie Grünen oder FDP.

Kemmerich ist erst der zweite Ministerpräsident der FDP in der Geschichte der Bundesrepublik. Der liberale Politiker Reinhold Maier war von 1945 bis 1952 Ministerpräsident von Württemberg-Baden und dann von April 1952 bis September 1953 Regierungschef des neuen Bundeslandes Baden-Württemberg.

Weil keine Partei mit der AfD von Höcke koalieren will, bleibt in Thüringen auch nach der überraschenden Wahl Kemmerichs nur die Option eine Minderheitsregierung. Mohring betonte, Kemmerich müsse nun erneut klarmachen, dass es keine Koalition mit der AfD und eine klare Abgrenzung nach rechts gebe. Dann sei auch die CDU offen für neue Gespräche.

Die Thüringer FDP hatte den Einzug ins Parlament selbst nur denkbar knapp geschafft und die Fünf-Prozent-Hürde um nur 73 Stimmen übersprungen. Ramelows angepeiltes Bündnis von Linke, SPD und Grünen verfügte nach dem Urnengang nur noch über 42 von 90 Mandaten im Landtag. Ramelow hatte deshalb eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung unter seiner Führung angepeilt. Am Dienstag hatten die bisherigen Koalitionspartner bereits einen neuen Regierungsvertrag unterschrieben.

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