Erfurt Thüringen traurige Spitze beim Kindesmissbrauch

Die CDU will, dass Kindesmissbrauch durchgängig nicht bloß als Vergehen, sondern als Verbrechen eingestuft wird. Foto: Silvia Marks/dpa-tmn/dpa

In Thüringen werden mehr Fälle von Kindesmissbrauch registriert als in allen anderen Bundesländern. Der Weiße Ring fordert einen Landesbeauftragten zum Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch.

 
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Erfurt - In keinem anderen Bundesland sind 2019, gemessen an der Einwohnerzahl, so viele Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch erfasst worden wie in Thüringen. Im Freistaat registrierte die Polizei im vergangenen Jahr 27 Fälle pro 100 000 Einwohner und damit deutlich mehr als zum Beispiel in Bayern oder Baden-Württemberg, wie aus der polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes (BKA) hervorgeht. Schon in den Vorjahren erfasste die Thüringer Polizei deutlich mehr solcher Delikte als Länderpolizeien in anderen Teilen Deutschlands.

Warum in Thüringen so viel häufiger sexuelle Übergriffe auf Kinder bekannt werden, ist unklar. Die Landesvorsitzende der Opferschutzorganisation Weißer Ring, Marion Walsmann, forderte vor diesem Hintergrund unter anderem die Einsetzung eines Landesbeauftragten zum Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch.

Nach der BKA-Statistik registrierte die Polizei in Bayern und Baden-Württemberg im vergangenen Jahr 13 beziehungsweise 13,7 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch je 100 000 Einwohner - also nur etwa halb so viele wie in Thüringen. In Berlin und Brandenburg waren es 22,1 beziehungsweise 22,7 Fälle. Im Jahr 2018 hatte die Polizei in Mecklenburg-Vorpommern im Bundesvergleich die meisten Delikte festgestellt: 24 je 100 000 Einwohner.

Walsmann vermutet, dass in Thüringen der Verdacht auf sexuellen Kindesmissbrauch häufiger angezeigt wird als anderswo. Aber sie räumt ein: "Tatsächlich wissen wir nicht, woher diese Unterschiede bei den Fallzahlen kommen." Gleichzeitig widersprach Walsmann der These, solche Fälle kämen besonders häufig in anonymen Städten und in einkommensschwachen Familien vor. Dies sei keine Frage des Milieus. Richtig sei aber, dass Kinder besonders häufig von anderen Familienmitgliedern oder Bekannten sexuell missbraucht würden.

Diese Einschätzung teilt auch Holger Pröbstel, Vorsitzender Richter einer von zwei Strafkammern am Landgericht Erfurt, vor denen Kindesmissbrauch verhandelt wird. "Ich hatte vom katholischen Pastor über den evangelischen Pastor über den Kindergärtner, über den Grundschullehrer bis zum promovierten Maschinenbauer schon so ziemlich jeden auf der Anklagebank sitzen", sagte er.

Walsmann forderte Gesetzesänderungen. Die Betreiber von sozialen Netzwerken müssten verpflichtet werden, beim BKA anzuzeigen, wenn bei ihnen einschlägige Bilder oder Videos hochgeladen werden. Bislang müssten sich deutsche Ermittler viel zu sehr darauf verlassen, dass solche Hinweise zum Beispiel von amerikanischen Sicherheitsbehörden kämen.

Pröbstel sagte, der Umgang von Behörden mit Verdachtsfällen auf sexuellen Missbrauch von Kindern sei nach seiner Erfahrung höchst unterschiedlich. Während einige Ämter inzwischen sehr sensibel damit umgingen, habe er auch schon Fälle verhandelt, bei denen das Jugendamt davon gewusst habe, ohne dies zu melden. Auch an Schulen würden entsprechende Verdachtsfälle noch zu häufig "unter dem Deckel gehalten", sagte der Richter.

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