Thüringer helfen Haiti-Hilfe unserer Leser: "Sie haben Ihr Herz weit geöffnet"

Klaus-Ulrich Hubert

Die Corona-Pandemie nehmen wir als nie dagewesene Krise wahr. Was eine wirkliche Katastrophe ist, erlebten die Menschen auf Haiti vor zehn Jahren. Das Jahrtausend-Erdbeben in der Karibik löste bei den Südthüringer Zeitungslesern enorme Hilfsbereitschaft aus. Ein Rückblick.

 
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Als sich am 12. Januar 2011 das Horror-Erdbeben von Haiti mit einer Viertelmillion Toten erstmals jährte, hatte eine Herzens-Aktion den Menschen des verwüsteten Landes zielgerichtete Hilfe aus Südthüringen über den Atlantik gesendet. Leser, der Verein "Freies Wort hilft" und andere Unterstützer gaben Hoffnungszeichen durch ein nachhaltiges, konkretes Projekt: "Eine Schule für Haiti". Hoch oben im Bergdorf Palmiste-à-Vin mit seinen armseligen Ansiedlungen nahe des Beben-Epizentrums im Südwesten des Nachbarlandes der Dominikanischen Republik.

Rekord-Hilfe

Die Haiti-Spendensumme von knapp 139 000 Euro war die drittgrößte, die "Freies Wort hilft" jemals gesammelt hat. Nur bei den Flutkatastrophen in Sachsen und Ostthüringen gab es noch mehr Spenden. Von dem Geld wurden die zerstörte Schule und deren Trinkwasserversorgung in Palmiste-à-Vin wieder aufgebaut.

Lesen Sie nächste Woche: Ein Dorf blickt nach vorne - was aus der Hilfe geworden ist und wie die Menschen heute leben.

Am Anfang steht nach dem gewaltigen Erdbeben Anfang 2010 der vielfach bekundete Leserwille: "Wir müssen den Menschen unbedingt helfen!" Sieben Tage nachdem sich in Haiti so mörderisch die Erde auftat, unter den Trümmern Zigtausende Menschen starben, da erreiche ich per Satellitentelefon zwei Thüringer in all dem Elend: Das Ehepaar Stade von der Feuerwehr in Marlishausen bei Arnstadt. Zwei Suchhundeführer, die in ihrer weltweit bei Katastrophen bewährten schnellen Eingreiftruppe ISAR ein hartes Ehrenamt leisten: Überlebende suchen.

Totale Ruhe muss bei ihrer Mission rings um die eingestürzten Häuser herrschen, um mögliche leise Hilferufe Verschütteter orten zu können. Dort, wo die gellenden Todesangst-Schreie der ersten stockfinsteren Stunden nach minutenlangen Erschütterungen und stundenlang wiederkehrenden Nachbeben längst verstummt sind und nun Entsetzen, Hilflosigkeit, Ruinen und Leichengeruch allgegenwärtig sind. Nach solch einem Einsatztag findet Sabine Stade am Telefon kaum Worte, wie lange dieses Land noch Hilfe braucht, wenn "wir Retter und die TV-Teams längst abgezogen sind".

"Aber wir leben!"

Zeitiges Frühjahr 2010: Leser-Spendenbereitschaft formiert sich, als diese Zeitung über die im Wartburgkreis verheiratete Rose-Myrta Rollberg-Sylvestre schreibt. Und über die Erleichterung der Haitianerin, weil ihr Bruder in Thüringen anruft: "Aber wir leben!" Rose-Myrta ist verzweifelt, in der Heimat nicht helfen zu können. Mit dieser Geschichte ruft im Januar 2010 "Freies Wort hilft" zu ersten Haiti-Spenden auf.

Erste institutionelle Partner, viele private wie gesellschaftliche Unterstützungsaktionen und Benefizveranstaltungen folgen. Voran der Ilm-Kreis. Dessen Landrat Benno Kaufhold sowie die Kreissparkasse bringen rasch 30 000 Euro Startkapital für die Aktion auf die Waage. Dass die bereits am 1. März Richtung konkreter Vor-Ort-Hilfe ausschlägt, steht nach Beratungen in Berlin fest: In der Zentrale des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) und dessen damaligem Präsidium unter Rudolf Seiters.

Kriterium: Kein Schnellschuss, wie so manche Soforthilfe-Millionen, die im Armenhaus Amerikas oft in finsteren Kanälen versickerten und nie die Spendenadressaten erreichten. Der Ilmenauer Architekt Erdmann-Johannes Steffani entwirft Grobplanungen eines erdbebensicheren Schulneubaus. Doch belegen DRK-Erfahrungen aus Haiti: "Bitte nichts auf der grünen Wiese hochziehen! Chaotische Verwaltungs- und Eigentumsverhältnisse würden alles unkalkulierbar machen", weiß der DRK-Koordinator für Haiti, Mario Geiger.

Am 29. Mai erreiche ich telefonisch den deutschen Botschafter in Haitis kaputter Hauptstadt Port-au-Prince, Jens-Peter Voss. Der verleiht dem Nachdruck. "Weil es einem gut gemeinten Projekt unter den instabilen Verhältnissen sonst schlecht ergehen könnte. Hier wurden 4000 Schulen zerstört; der Staat fühlt sich nur bedingt zuständig und in der Lage zu helfen", sagt der Diplomat.

4000 Schulen zerstört

Aus Haiti erreichen Bilder die Welt, als seien Bombenteppiche niedergegangen. Dazu verschüttete Leichen, an die niemand herankommt, kaputte Straßen, kaum Trinkwasser, die wenigen Stromleitungen oft tot. Plus extreme Seuchengefahr. Bald grassiert die Cholera.

Warum der Botschafter den Vizechefredakteur Markus Ermert vom Vereinsvorstand und mich als Reporter außerdem damals bittet, eine riskante Haiti-Reportage-Reise erst mal zu unterlassen, wird er noch mal Mitte Januar 2011 in der Hauptstadt Port-au-Prince unterstreichen.

Da hofften wir, auf gepacktem Rückfluggepäck sitzend, dass bürgerkriegsnahe Zustände der bevorstehenden Präsidentschafts-Stichwahlen nicht zu Ausnahmezustand samt Airport-Schließung führen.

Doch ein Jahr nach dem Beben war es unverzichtbar geworden, von den Menschen der weitläufigen Bergsiedlung Palmiste-à-Vin und deren Not aus erster Hand zu berichten: Schaut, liebe Südthüringer, das konnte aus eurer herzensvollen Unterstützung werden: Eine Schule für Haiti. Jenes "École St. Charles de Borromée", das am Abend des 12. Januar 2010 so wie das ganze Dorf zusammenstürzte und aufhörte, die Schule für die Kinder der Bauernfamilien rund um Palmiste-à-Vin zu sein.

Stolz auf Geschafftes

Bereits gegen Ende des Erdbebenjahres 2010 erfolgte schrittweise deren Wiedereröffnung: Schulhoflärm; schöner, mutmachender Lärm in schlimmen Zeiten.

Unsere Vor-Ort-Partner sind Pranius Olizard und seine Männer vom Orden der heiligen Therese. Als engagierter Laien-Ordensbruder ist Olizard nicht nur Schul-Kümmerer und Quasi-Bürgermeister der 7000-Einwohner-Siedlung, um die sich damals der Staat nicht kümmert. Hier gründete sein winziges katholisches Kloster 26 Jahre vor dem Beben die Schule. "Quasi in der Wüste und bitterer Armut", erzählt Olizard als Dorfautorität, den man bei unseren gemeinsamen Ortsterminen 2011 am Steuer des Kloster-Pick-ups stets schon von Weitem achtungsvoll grüßt.

Kinder von drei bis 18 Jahren beleben wieder die schlichten Beton-Klassenräume. Alle mit zwei türlosen Ein- und Ausgängen: Fluchtwege, falls das große Erdbeben-Gespenst wiedererwacht. Die Kinder mit ihren oft über zehn Kilometer langen Zu-Fuß-Schulwegen aus dem zerklüfteten Einzugsgebiet ergreifen zunächst von den ersten sechs ihrer künftigen zwölf Klassenräume Besitz.

Umgerechnet 100 000 US-Dollar sind bis dahin bereits durch die Gemeinschaftsaktion von "Freies Wort hilft" mit den Lesern, Benefizaktionen, Schulen, dem Ilm-Kreis samt seiner Sparkasse und dem DRK vor Ort in das Projekt geflossen. Baulich umgesetzt unter DRK-vor-Ort-Regie durch die Tatkraft der Eltern.

In deren Mitte erleben wir eine bewegende Elternversammlung. "Ich danke ‚Freies Wort hilft‘ und den großherzigen Menschen in Deutschland. Sie haben Ihr Herz so weit geöffnet, um das Leid in Palmiste-à-Vin zu lindern. Ihre gute Tat macht uns glücklich. Vor uns liegt ein langer Weg. Lasst uns weiter die Hände reichen, um die Welt etwas besser zu machen", sagt damals Olizard, und die Eltern - alles einfache, arme Bauern - nicken, lächeln, sind froh.

Das mit seinem "die Welt besser machen" bezog er auch darauf: Landesüblich sind 100 Dollar Schulgeld pro Jahr zu zahlen. Kaum aufzubringen von den meisten Familien.

Tausende bleibende Eindrücke. Diese Schule - ein Glücksfall für Menschen hier. Allabendlich sitzen wir seit 7. Januar 2011 bis zum Ausschalten des kleinen Stromgenerators um 21 Uhr im kleinen, aus Sperrholz wiedererrichteten, bescheidenen Mini-Kloster der "Kleinen Brüder der heiligen Therese", um unsere Tageserlebnisse zu verarbeiten.

Vor der Abreise, im weltweit vernetzten Rot-Kreuz-Lagezentrum, sagte man uns, die Haitianer lernten längst, sich selbst zu helfen, nicht auf den Staat zu hoffen! So auch unser Eindruck: Das funktioniert im ländlichen Raum am besten, ganz anders als in der chaotischen Hauptstadt. Doch genau dorthin zieht es die Hoffnungsuchenden. Und mit ihnen massenhaft Cholera-Infizierte. Impfgegner hätten von uns null Beifall zu erwarten gehabt - nachdem wir im überfüllten Klinikum der Provinzstadt Léogane vor allem die jüngsten Cholera-Opfer vor Augen hatten: Von der Seuche dehydriert, binnen weniger Tage buchstäblich verdorrt. Das vergisst man nie!

Sauberes Wasser

12. Januar 2011: Heute sind wir Teil einer Trauerfeier in der zerstörten Küstenstadt Léogane, in Sichtweite von Palmiste-à-Vin. Erster Jahrestag des Bebens, von "Douze janvier", wie der Katastrophen-Tag hier auf Französisch immer wieder benannt wird. Ergreifend, unvergesslich. Die Angst vor der Cholera dabei so groß wie die Trauer und Sorge vor weiteren Erdstößen. Überall gehören große Aufklärungsplakate zum Alltag. Und an "unserer" neuen Schule zudem die Gratis-Ausgabe von hygienisch unbedenklichem Trinkwasser an die Kinder mit ihren langen, glühend heißen Schulwegen. Keine Selbstverständlichkeit in dieser von Trockenheit und Grundwassermangel geprägten Berg-Gegend.

Mir kommen Erinnerungen an die Pausen-Schulmilch früher DDR-Jahre. Das in Haiti oft von privaten Anbietern kanisterweise und teuer einzukaufende Grundnahrungsmittel Nummer 1 gibt uns gegen Ende der Rechenschafts-Reise eine nächste große Aufgabe mit auf den Weg. Die bewegt uns Südthüringen-Botschafter bereits beim Rückflug. Die Solidarität ist bislang so erfolgreich, dass die Folge-Aktion "Haiti braucht Wasser" nun bereits auf Erfahrung und Herzenswärme bewährter Unterstützer bauen kann.

Als ich später bei Fotoausstellungen gefragt werde, was bitte schön ein (der Schule angegliedertes) Transformationszentrum sei, durfte über die Antwort auch mal gelacht werden: Eine - buchstäbliche! - Lohn-Schnapsbrennerei. Hier werden aus heimischen Früchten Obstbrände destilliert, deren Direktvermarktung für die schmalen Gehälter von 16 Lehrern unserer Schule wichtig ist.

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