Suhl - Da stellt einer sein Buch vor, das den knappen Titel "Grau" trägt, und die Veranstaltung findet in unmittelbarer Nachbarschaft eines Hochhauses statt, das demnächst von oben bis unten in Grau klotzt. Zuvor war es das blaue Hochhaus. Dabei dachte man doch, das Grau sei nach der Wende aus dem Stadtbild im Osten verschwunden und Farbe Trumpf. Was schwärmten dereinst DDR-Bürger, die in die BRD reisen durften, wie bunt der Westen aussähe, ganz im Gegensatz zur DDR.

Sergej Lochthofen stellt ein Zitat des Malers Paul Cézanne seinem Buch voran: "So lange man nicht ein Grau gemalt hat, ist man kein Maler." Lochthofen, der Kunst auf der Krim studierte bevor er in Leipzig zum Journalismus fand, benutzt Grau als eine Metapher. Auf "Eine Lebensgeschichte aus einem untergegangenen Land", wie das Buch im Untertitel heißt. Seine Geschichte, die ist eben nicht einfach Schwarz oder Weiß, sondern dazwischen. Wie übrigens bei vielen Menschen dieses untergegangenen Landes. "Grau ist eine sehr differenzierte Farbe, der Rahmen, in dem wir alle uns bewegten, war grau. Trotzdem konnte das Leben in der DDR spannend sein. Man hielt die Klappe, schaute weg, arrangierte sich, und dennoch war es individuell bunt", bemerkt er vor den Zuhörern im vollen Suhler Buchhaus. Um sogleich anzufügen, heute sei es auch nicht einfach, den Mund zu halten. Er kenne genügend Leute, die vor ihrem Geschäftsführer die Klappe hielten, mehr als einst vor ihrem Parteisekretär. Doch langsam komme die Zeit des differenzierteren Sehens, weg von Schwarz-Weiß. . "Ich hoffe sehr, dass diese Geschichten nun geschrieben werden - warum Menschen, selbst kritisch denkende, nicht weggingen aus der DDR." Seine ganz persönliche ist beispielsweise eine solche.

Im Mai 2013 war Lochthofen schon einmal zu Gast in der Stadtbücherei mit dem Buch "Schwarzes Eis" über seinen Vater Lorenz, ein deutscher Kommunist, der zehn Jahre stalinistischen Terror im Gulag und im sibirischen Workuta überlebte und in den späten fünfziger Jahren mit junger russischer Ehefrau und zwei kleinen Söhnen endlich in die DDR ausreisen durfte. Als umtriebiger Betriebsleiter in Gotha und später im Büromaschinenwerk in Sömmerda machte der Mann mit der für die SED-Oberen problematischen Vergangenheit doch noch Karriere.

Als Russe unter Deutschen

Nun hat Sohn Sergej diese Familiengeschichte um seine eigene weitergeschrieben, bis Anfang Januar 1990 in Erfurt. Und es könnte gut sein, dass der Autor noch einen dritten Band folgen lässt. Schließlich dürfte die Zeit nach 1990 bis zur Gegenwart für den ambitionierten Journalisten, der in der Sowjetunion geboren wurde, als Russe unter Deutschen lebte und erst 1993 deutscher Staatsbürger wurde, nicht minder spannend sein. Neunzehn Jahre leitete er erfolgreich als Chefredakteur die Thüringer Allgemeine. 2009 endete diese Karriere abrupt, die WAZ hatte ihn geschasst. Seither arbeitet er als freier Journalist, schreibt für große Zeitungen, ist Gast im ARD-Presseclub und wurde jetzt auf dem Verbandstag des Deutschen Journalistenverbandes in Weimar wieder in den Deutschen Presserat gewählt, das freiwillige Selbstkontrollorgan der Presse.

Krim, Putin, die Ukraine

Mit seiner ungewöhnlichen Biografie versteht Lochthofen sich als "Teil einer Familie, die zwischen Deutschland und Russland hin und her getrieben war." Die deutsch-russische Geschichte sei nicht uninteressant, um zu verstehen, was heute geschehe. Und: "Die DDR ist nicht ohne die Sowjetunion zu denken." Der Anteil, derer, die in der DDR für Demokratie sorgen wollten, sei sicher groß gewesen, aber letztlich die Wende ohne Gorbatschow nicht denkbar.

Es sind nicht die geläufigen Vorstellungen einer Lesung, die Sergej Lochthofen an diesem Abend bedient. Er erzählt, oftmals recht humorvoll, aber nie ohne Hintersinn. Er springt in Vergangenheit und Gegenwart, legt Singles der Beatles, der Blue Diamonds in einer mitgebrachten Musiktruhe auf. Die sei die schickste in den Sechzigern gewesen, lobt er den nostalgischen Edelholzkasten. Die Songs sollen den Sound seiner Kindheit und Jugend einfangen, begründet's der Bob-Dylan-Fan.

Diese Lesung ist ohne die heißen Themen Russland, Putin, Ukraine und Krim undenkbar. Manches wird gefragt, manches spricht der kenntnisreiche Journalist selbst an. Dabei spart er nicht mit Kritik an seiner eigenen Zunft. Die Berichterstattung sei nicht gut, nicht differenziert genug über die Ukraine. Und er benennt die Fehler des Westens. Dass sich die Ukraine entscheiden sollte zwischen Europa und Russland sei ein großer Fehler der europäischen und amerikanischen Politik. Das Land von Russland abzuschneiden, "wird uns alle viel kosten".

Die Krim sieht Lochthofen verloren. Russland habe sie annektiert wie auch die Ostukraine. Für ihn kein fremder Landstrich, die Großeltern stammen aus dieser Gegend. Und Russland sei auf dem falschen Weg, nationalistisch, chauvinistisch. Im 21. Jahrhundert Grenzen zu verschieben, wie Putin es getan habe, gehe gar nicht.

Angela Merkel wisse, ein gutes Verhältnis zu Russland sei für Deutschland elementar. "Wir müssen für Deeskalation sorgen, Putin muss von seiner Palme herunter geholt werden", sagt er, als er auf das Agieren des Staatschefs angesprochen wird. Für Lochthofen ist Zar Peter I. (1672-1725) der letzte große Europäer, der Russland regierte, bemerkt er in diesem Zusammenhang. Bis auf den heutigen Tag sei das große, reiche Land ohne Ordnung geblieben.

Nach zwei Stunden, die wie im Flug vergingen, standen die Besucher noch Schlange beim Signieren, und einer sagte beim Hinausgehen: Eine so unterhaltsame Lesung zu einem solch anspruchsvollen Thema habe ich noch nicht erlebt."

Sergej Lochthofen: Grau, Rowohlt