Suhl - Selten einmal rücken Literatur und Wirklichkeit so dicht beieinander wie an diesem Abend. Und wohl deshalb auch war das Publikum aufgewühlt und tief betroffen. Denn Grit Poppe hatte zu ihrer Lesung eine Frau mitgebracht, die genau all das erlebte, was der vierzehnjährigen Anna - einer Fantasiegestalt ihres Buches "Weggesperrt" - widerfährt: der Albtraum im DDR-Jugendwerkhof in Torgau.

Das steckt niemand weg

Kathrin Beguin, 42 Jahre alt, in Weimar lebend, hat fast drei Jahre einen kaum vorstellbaren Leidensweg durch die Jugendwerkhöfe Eilenburg, Torgau und Hummelshain gehen müssen, allein dreieinhalb Monate in Torgau, wo es am schlimmsten war: Schikanen, Demütigungen, harte Strafen. Einen jungen Menschen kann das brechen.

Genau wie die Anna im Buch war sie vierzehn Jahre alt, als sie weggeschlossen wurde. "Das kann man nie wegstecken, und es verfolgt einen ein Leben lang", sagte sie mit trockener Stimme. "Wenn ich meine Mutter und meinen Vater nicht gehabt hätte, ich hätte das nicht überlebt, die haben um mich gekämpft."

Dabei waren ihre Eltern - wenn auch ungewollt - eigentlich der Auslöser für die gestohlenen Jugendjahre. Wohlbehütet sei sie aufgewachsen, habe ein gutes Elternhaus gehabt, eine liebe Oma. Das Abnabeln mit vierzehn, die Pubertät, hat sie besonders heftig umgetrieben, sehr zu Leidwesen ihrer Familie. Kathrin hockte mit Pennern zusammen, hörte Musik, die in der DDR nicht erwünscht war, trug offen einen Aufnäher "Schwerter zu Pflugscharen". Die Eltern, aus Angst um ihre halbwüchsige Tochter, suchten Hilfe - und verloren stattdessen ihr Kind und das Erziehungsrecht. Denn Kathrin galt fortan bei den DDR-Behörden als "schwer erziehbar". Es sei in ihrem eigenen Interesse, sie sofort in ein Heim zu geben, außerdem stelle Kathrin eine Gefahr für Saalfeld dar, war den entsetzten Eltern damals mitgeteilt worden.

Doch das widerborstige Mädchen büxte immer wieder aus, und wurde immer wieder eingefangen. Ein Jugendwerkhof folgte dem anderen, eine schlimme Strafe der anderen. Die Weggesperrten kannten ein Lied: "Mauern". Das sangen sie alle. Immer wieder. Kathrin brachte es an jenem Abend mit nach Suhl. Sang es zur Gitarre, wie auch andere Lieder, von denen sie einige selbst textete. Das Singen über diese Zeit sei für sie zu einem Teil ihrer Therapie geworden. Siebzehn Jahre schwieg sie über ihre Erlebnisse in den DDR-Jugendwerkhöfen, niemandem vertraute sie sich an. Bei ihrer Entlassung als Siebzehnjährige musste sie seinerzeit unterschreiben, dass sie gut behandelt worden sei und dass sie Stillschweigen über das Erlebte bewahre.

Für Grit Poppe, die schon mehrere Romane und Geschichten für Kinder und Erwachsene schrieb, verwoben mit Fantasy-Elementen, ist "Weggesperrt" ihr erster realistischer Jugendroman. Für die Recherchen hatte sie Menschen mit Erfahrungen, Zeitzeugen, gesucht und befragt. Die haben das Manuskript vorher gelesen, sagte sie, und seien froh über das Buch. Denn das wahre Kapitel über die Jugendwerkhöfe sei lange kaum so recht bekannt gewesen.

Die Geschichten erzählen

An die 4000 Kinder und Jugendliche saßen dort ein, nur etwa 400 von ihnen haben bis heute einen Antrag auf Rehabilitierung gestellt. Grit Poppe selbst Mutter zweier Kinder im Teenageralter, sieht es als wichtig an, den Jugendlichen von heute die Geschichten der Opfer zu erzählen. In den Schulen, vor allem im Osten, würden diese Zeit und das spezielle Thema allerdings kaum behandelt. Während hier die Lehrer wesentlich zurückhaltender reagierten auf Angebote zu Lesungen, erfahre sie in den alten Bundesländern ein ganz anderes Interesse. Ihr Buch "Weggesperrt" sei in Baden-Württemberg beispielsweise Prüfungsstoff beim Realschulabschluss.

Auch in Suhl konnte sich keine Schule für diese Lesung mit einem brisanten Jugendbuch erwärmen, die die Stadtbücherei gemeinsam mit der Thüringer Landeszentrale für politische Bildung, der VHS und der BStU-Behörde Suhl organisierte. Bibliothekschefin Irmhild Roscher hatte dazu alle Schulen angeschrieben, aber ohne Resonanz.

Grit Poppe: Weggesperrt, Cecilie DresslerVerlag, 2009 Hamburg