Sonneberg - Im Entengang zigmal hunderte von Stufen hinauf und hinab, Drill- und Strafsport bei jedem noch so kleinen Fehler zur Züchtigung, von ihren Peinigern als "medizinisch" deklarierte, demütigende Untersuchungen. Kathrin Begoin weiß, wovon sie spricht: Sie ist eine Zeitzeugin. Sie kam als 16-Jährige für drei Monate in den Geschlossenen Jugendwerkhof nach Torgau.

Noch heute seien die meisten Einwohner der sächsischen Stadt davon überzeugt, in ihrer Mitte habe sich lediglich ein Heim für schwer erziehbare Jugendliche befunden, erklärte Grit Poppe, die am Dienstag aus ihrem Buch "Weggesperrt" in der Sonneberger Stadtbibliothek las. Zwei Buchläden gäbe es in Torgau, in keinem sei ihr Buch erhältlich. "Sie wollten es nicht ins Sortiment aufnehmen", berichtete die Autorin.

Nicht alles war rosig

Für Poppe war "Weggesperrt" nach Kinder- und Erwachsenenbüchern der erste Jugendroman, veröffentlicht 2009. Auf die Idee, sich der repressiven Heimerziehung in der DDR zu widmen, hätten sie ihre Kinder gebracht. "Obwohl die ehemalige DDR auf den Lehrplänen beider stand, wurde deren Geschichte nicht durchgenommen", erzählte sie den zwar wenigen, dafür umso interessierteren Zuhörern. "Außerdem wollte ich als Autorin der schäumenden Ostalgiewelle etwas entgegensetzen", begründete sie ihre Entscheidung. Als Ausgangspunkt habe sie die Verhaftung einer Mutter durch die Stasi gewählt und recherchierte, was in solchen Fällen mit den Kindern geschah. "Bis dahin wusste ich selbst nichts von den Jugendwerkhöfen in der DDR, geschweige denn von dem in Torgau", so die Autorin. Sie habe lediglich gewusst, was es heißt, wenn plötzlich Stasi-Mitarbeiter auftauchten und Familienmitglieder zu Verhören abführten. Auch ihr eigener Vater sei auf diese Weise "hin und wieder verschwunden" gewesen.

Anja, Hauptfigur des Romans, widerfährt ein solches Schicksal. Ihre Mutter protestierte gegen die Ausweisung einer Freundin, stellte selbst einen Ausreiseantrag. Sie wird von Stasimitarbeitern verhaftet, die 14-jährige Anja zunächst in ein sogenanntes Durchgangsheim gebracht, die es laut Poppe in der ganzen DDR gegeben hat. Endstation: Geschlossener Jugendwerkhof Torgau.

In eindringlichen Worten schilderte die Schriftstellerin, was auf Jugendliche zukam, die sich in dieser Mühle staatlicher Willkür befanden. Grundlage dafür waren Gespräche mit Zeitzeugen, sowohl von Täter- als auch Opferseite. "Selbst heute, mehr als 20 Jahre nach der Wende, traut sich kaum einer, darüber zu sprechen, was ihm in den Heimen oder in den Jugendwerkhöfen widerfahren ist", erklärte die 47-Jährige.

Eine, die sich sogar öffentlich traut, ist Begoin. In der Spielzeugstadt sang und redete sie sich Erinnerungen von der Seele - 14 lange Jahre konnte sie das nicht. Es habe weitere fünf Jahre gedauert, das auch vor Publikum durchzustehen, so wie sie es in der Stadtbibliothek tat.

1968 in Saalfeld geboren, sei sie als Einzelkind wohl behütet aufgewachsen, erzählte Begoin. Bis zur achten Klasse sei alles normal verlaufen. "Dann kam das Gerücht auf, mein Vater arbeite als Spitzel für die Stasi", berichtete die heute 43-Jährige. Alle hätten sich von ihr abgewandt. Wie sich nach Einsicht in die Stasi-Akte ihres Vaters herausstellte, sei an dem Gerücht nicht ein Körnchen Wahrheit drangewesen. "Darin war vermerkt, dass man meinen Vater drei Mal von einer Mitarbeit überzeugen wollte, er aber jedes Mal abgelehnt hatte", so Begoin.

Die damals 16-Jährige fand Anschluss an eine Clique älterer Jugendliche, darunter auch wegen Kritik am System Vorbestrafte. Begoin kam für drei Wochen ins Durchgangsheim Gera, wo sie auf den richtigen Weg gebracht werden sollte. "Du musst einfach nur funktionieren, sonst packst du das nicht", erinnerte sie sich an die von Schikanen und Demütigungen geprägte Zeit.

Zurück in Saalfeld, hatte sie zwar Kontakt zu ihrer Clique, durfte aber nicht zur Schule, sondern musste eine Lehre machen, während der sie weiter unter Beobachtung stand. Eine Fehlschicht habe sie sich geleistet, und einmal sei sie zu spät zur Arbeit gekommen, berichtete sie. "Da wurde meine endgültige Umerziehung beschlossen", so Begoin. Sie kam zunächst in den Offenen Jugendwerkhof Eilenburg, wo sie eine Ausbildung in einem Getränkewerk machte, auf Norm arbeiten musste. "Ich gehöre nicht hierher", seien ihre einzigen Gedanken gewesen. "Ich war doch keine schwer erziehbare Jugendliche, sondern stammte aus einem funktionierenden Elternhaus", sei es ihr ständig durch den Kopf gegangen.

Entwürdigung ohne Ende

Anfangs hätten sie ihre Eltern noch regelmäßig besuchen dürfen. Doch plötzlich wurde dies untersagt. Da sei es aus gewesen, sagte sie und entschloss sich zur Flucht. Lange habe die Freiheit nicht gedauert. Sie wurde gefunden und letztlich nach Torgau gebracht, in den Geschlossenen Jugendwerkhof. "Ich hatte doch nichts verbrochen", suchte sie ihre Flucht zu rechtfertigen. "Ich wollte doch nur nach Hause. Ich kam mir vor wie ein Schwerstverbrecher." Leibesvisitationen, durchgeführt von Männern an 16 Jahre jungen Frauen, musste sie über sich ergehen lassen, gefolgt von Desinfektion: "Wir wurden in einen Duschraum geführt, der aussah wie im KZ Buchenwald. An der Decke befanden sich knopfartige Düsen, und ich dachte nur noch: hier überlebst du nicht, die bringen dich jetzt um." Auch die entwürdigende Behandlung des Haareschneidens ließ sie über sich ergehen.

Wieder funktionierte sie, baute Stecker für Waschmaschinen zusammen - im Akkord. 24 Stunden Sprechverbot, pro Tag drei Tassen Tee, Toilettengang drei Mal am Tag - nicht, wenn sie mussten, sondern wenn sie durften, zu fünft, ohne Trennwand, unter Aufsicht: Frauen bei den Jungen, Männer bei den Mädchen. Der Punkt, an dem sie "nein" sagte, kam während einer Mahlzeit. "Ich mochte keine Sülze", erzählte Begoin. Sie wollte sie zurückgeben, bekam ein zweites Stück. Ihr Magen rebellierte, sie bat, den Saal zum Übergeben verlassen zu dürfen, musste wieder an ihren Platz. "Ich übergab mich - auf meinen Teller", erinnerte sie sich. Die Reaktion der Erzieher: "Ich sollte mein eigenes Erbrochenes essen." Ihr erstes und einziges Nein wurde mit Einzelarrest bestraft.

"Wir sollten gebrochen werden", erklärte Begoin, die sich seit der Wende mit Gelegenheitsjobs und Saisonarbeit über Wasser hält. Nach drei Monaten kam die heute 43-Jährige raus aus Torgau, als "unverbesserlich entlassen".

"Weggesperrt" von Grit Poppe ist im Oetinger- sowie im Dressler-Verlag erschienen und ist in der Sonneberger Buchhandlung für 6,95 Euro (Neuauflage 2011) bzw. 9,95 Euro (2009) erhältlich. ISBN: 978-3-8415-0056-4 bzw. 978-3-7915-1632-5.

Torgau: Endstation im Erziehungssystem

Der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau galt als offiziell einzige geschlossene Disziplinierungseinrichtung und "Endstation" im Erziehungssystem. Aufnahmealter von 14 bis 18 Jahren, Aufenthaltsdauer bis zu sechs Monaten. Einweisungsgründe: Fluchtversuche, "renitentes Verhalten", Arbeits- oder Schulverweigerungen oder Kritik am Gesellschaftssystem. Die Einweisung erfolgte auf Antrag des Leiters eines Spezialheims beim Ministerium für Volksbildung, ohne Gerichtsbeschluss. Die Persönlichkeit junger Menschen wurde bewusst gebrochen. Von 1964 bis 1989 durchliefen ca. 4 000 Jugendliche diese Einrichtung, bis heute haben sich 460 von ihnen zu Wort gemeldet. Weitere Infos gibt es im Internet unter www.jugendwerkhof-torgau.de.