Schmalkalden - Scherzer braucht nichts außer seiner Stimme und seinem Buch, um die Leute in ein anderes Milieu zu versetzen, wenn auch nur in Gedanken. Cordjacke, Rucksack und Schirmmütze liegen durcheinander auf dem Tisch, neben dem der Südthüringer Schriftsteller, in schlichtem blauen Wollpulli und Jeans mit seinem Roman "Stürzt die Götter vom Olymp" in der Hand steht und liest. "Seine einfache Art, dafür sehe ich ihn gerne", kommentiert eine Besucherin.

Einfach ins Flugzeug setzen und los, denkt sich Scherzer, als er das erste Mal zu Recherchen nach Griechenland reist. Angekommen in einem riesigen Pauschalhotel, findet er am Buffet Tzaziki ohne Knoblauch und an der Bar Wodka trinkende Russen vor. Als er sich neben einen deutschen Touristen setzt, versucht der verzweifelt, ein Radler zu bestellen und meint: "Wenn wir schon unser Geld hierherbringen, sollten die wenigstes unsere Getränke kennen".

Von diesem, wenig griechischen, Kulturschock geplättet, läuft Scherzer ins Dorf, erkundet die Gegend. An einem Zeitungskiosk blicken ihm Merkel und Schäuble vom Titel eines griechischen Nachrichtenmagazins entgegen, darüber der Schriftzug "WANTED". In einem kleinen Laden trifft er einen "40-jährigen Lockenkopf mit Puppengesicht", eine Ikonenmalerin, die in Kiel Kunst studiert hat. Der Dietzhäuser fragt sie, warum so eine Wut auf die deutsche Regierung bestehe und die Künstlerin antwortet im fast akzentfreien Deutsch: "Vielleicht, weil sie die normalen Griechen so bluten lassen.

Warum sperren sie nicht die Konten von den Reichen, die ihr Geld auf ausländische Konten transportiert haben", klagt sie an. Löhne und Renten seien um 50 Prozent gekürzt worden. Wer ein Jahr arbeitslos ist, bekomme weder Sozialleistungen noch medizinische Versorgung. "Auf der anderen Seite wird kein Wort darüber verloren, dass über 20 Prozent des Bruttoinlandproduktes für Rüstungskäufe ausgegeben werde, für Waffen aus Deutschland." Diese Unehrlichkeit mache viele Griechen wütend, beschreibt die Frau die Gefühlslage vieler Einheimischer. Scherzer nickt.

Als er erzählt, wo er seinen Urlaub verbringt, meint die zugängliche Griechin: "Dort werden sie nicht verstehen, wie die normalen Griechen leben" und er weiß, dass er wiederkommen muss.

Bei seinem zweiten Besuch in Thessaloniki bekommt er Hilfe von zwei Literaturprofessorinnen, die ihm diesmal auch das Hotelzimmer gebucht haben. Auf der Fahrt dahin sieht sich Scherzer in dem Viertel um, wo er unterkommt. "Dort leben die armen, ärmsten und die allerärmsten Griechen und die Ausländer", berichtet er. Als er das Hotel, das mit bunten Lichterketten geschmückt ist, betritt, sieht er Koffer, Seesäcke und Rucksäcke in den Ecken liegen, Prostituierte und deren Freier laufen lachend die Treppen nach oben zu den Zimmern. "Landolf, hier kannst du nicht bleiben", meint seine Begleitung. Doch nach langer Diskussion sagt der Südthüringer Autor: "Genau hier werde ich schlafen!" Er fragt seine Bekannte, wie das Hotel eigentlich heiße. Sie blickt auf ein Schild am Eingang: "Europa."

Als Scherzer mit einer bewusst eingelegten Pause den Namen des Hotels ganz trocken vorliest, müssen die Besucher im Kollegraum der Mehrzweckhalle laut loslachen. Scherzer kommentiert: Ja, das habe ich auch gedacht. Die beiden Europas haben viele Gemeinsamkeiten. Zum Beispiel: Je höher einer will, umso größer ist die Last." Die Gäste der Lesung, zu der Luther-Buchhandlung und die Heinrich-Heine-Bibliothek geladen hatten, schmunzeln bei vielem, was der Brillenträger mit weißem Haar an dem Abend herauslässt. Aber Scherzer weiß auch: "Ich weiß nicht, ob ich ihnen von Vergnügen berichten kann, denn das, was ich vortrage, ist sehr wenig vergnüglich." So auch die nächste Episode, die er aus seiner neu erschienenen Reportage vorliest.

Als Landolf Scherzer im Europa nicht schlafen kann, weil eine Welles eines "Disko-Tsunamis" in sein Zimmer dringt, zieht er sich an, "um zu erkunden, wo sich das Epi-Zentrum befindet". Er geht auf die Straße und sieht, wie die Griechen nach 22 Uhr leben - sie quatschen, diskutieren und trinken Kaffee. "Miteinander reden ist bei ihnen leben", beschreibt Scherzer die Mentalität der Südeuropäer. Neben den Cafés sieht er einen "alten Mann" im Müll kramen. Der alte Mann heißt Christos und ist eigentlich erst 58 Jahre alt.

Er arbeitete lange als Staatsangestellter im öffentlichen Dienst, bis sein Job bei der ersten Kündigungswelle wegrationalisiert wurde. Sein Sohn lebt im Ausland, schickt ihm gelegentlich Geld. Zwei junge Männer bringen Christos etwas Brot. Sie kommen mit Scherzer ins Gespräch und fragen ihn, ob er Merkel liebe? "Und als ich mit gutem Gewissen Nein gesagt habe, laden sie mich zur Disko ein", sagt Scherzer und die Besucher der Lesung müssen doch schon wieder grinsen. "Es ist immer sehr erfrischend ihm zuzuhören", sagt Helga Posselt. Man höre ja sonst nur aus den Medien, wie es in Griechenland aussieht. Die Berichte des Südthüringers seien anders, da er es hautnah erlebt habe.

Bertl Werner gefällt, dass Scherzer "so lebhaft vorträgt". Sie habe ihm schon öfter zugehört - immer wieder beeindruckt von seiner authentischen Art. "Schade ist allerdings, dass keine Diskussion stattgefunden hat. Er hat immer was zu sagen. Das hätten die Organisatoren besser moderieren müssen." Der Austausch gehöre ihrer Meinung nach auch zur Lesung, die auf Grund enormer Nachfrage vom Rathaussaal in den Kollegraum der Mehrzweckhalle verlegt worden war.