Meiningen. Eine besondere Premiere gab es am vergangenen Freitagabend in der Kirche in Dreißigacker zu erleben. Eigentlich sogar eine Doppelpremiere, denn erstmals war in das Gotteshaus zu einem Lyrik-Abend mit Musik eingeladen und erstmals wurde dazu mit dem Dichter Paul Celan und seinem Werk bekanntgemacht.

Zu verdanken ist dieser ungewöhnliche Lyrik-Abend dem Schauspieler Michael Gerlinger und der Cellistin Renate Kubisch. Bis vor einigen Jahren war Gerlinger am Meininger Theater engagiert, als freischaffender Künstler hat er seither die hiesige Kulturszene vielseitig belebt. Ob mit der LateNightShow im Kunsthaus, einem Rio-Reiser-Abend im Marstallhof oder anderen thematisch zumeist schrägen Programmen. Mit Paul Celans Gedichten zeigt er sich jetzt von einer ganz anderen Seite. Dazu entdeckt er einen Dichter, der im Osten bislang kaum bekannt war. Außer dem vielzitierten „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland, sein Auge ist blau“ aus dem Gedicht „Die Todesfuge“ weiß man eigentlich nichts über dessen Leben und lyrisches Werk.

Unter dem Titel dieses bekannten Gedichts zitiert Gerlinger nicht nur Celan-Texte. Zusammen mit der Cellistin Renate Kubisch hat der Schauspieler sozusagen durchkomponierte Szenen mit Celans Texten geschaffen. Diese Übersetzung ins Optische erleichtert den Zuhörern den Zugang zu den schwierigen, zumeist surrealen Gedichten und stellt sie zudem in Zusammenhang mit dem Leben des Dichters.

Paul Celan wurde in Czernowitz in den Nordkarpaten in einer deutschsprachigen jüdischen Familie geboren. Als 1941 rumänische und deutsche Truppen Czernowitz besetzten, wurden die Juden in ein Ghetto eingesperrt. Celans Eltern wurden 1942 deportiert. Sein Vater starb in einem Lager in Transnistrien an Typhus, seine Mutter wurde erschossen. Er selbst wurde in verschiedenen rumänischen Arbeitslagern festgehalten und musste Zwangsarbeit im südmoldauischen Straßenbau leisten. Nach der Befreiung kehrte Celan im Dezember 1944 nach Czernowitz zurück und nahm sein Studium der Romanistik wieder auf. 1947 ging er über Ungarn nach Wien und übersiedelte 1948 nach Paris. Im August 1948 begegnete er Ingeborg Bachmann, mit der er eine kurze Liebesbeziehung einging. In Paris lernte Celan im November 1951 die Künstlerin Gisèle de Lestrange kennen, die er ein Jahr später heiratete. 1952 erschien in Stuttgart sein Gedichtband „Mohn und Gedächtnis“ mit dem viel beachteten Gedicht „Todesfuge“, das den Mord an den europäischen Juden durch die Nationalsozialisten thematisiert. 1955 erhielt Celan die französische Staatsbürgerschaft. Er wurde mehrmals in psychiatrische Kliniken eingewiesen, weil er in einem Wahnzustand seine Frau mit einem Messer töten wollte. Die Umstände und das Datum von Celans Tod blieben ungeklärt. Vermutlich am 20. April 1970 suchte der Dichter in Paris den Freitod in der Seine.

Der Schauspieler und die Musikerin nutzten die ganze Kirche als Spielraum. Gerlinger rezitierte von der Kanzel, von der Empore, im und vor dem Altar. Er spielte mit Stühlen, Schubkarre, Erde und Schreibmaschine. Er trug vor und sang im Sprechgesang mit Ausdrucksstärke und großer Gestik. Und er wurde dabei eins mit dem Dichter. So vermischte Gerlinger Surreales mit Realem. Die Zerrissenheit des Dichters und seine kranke Seele machte er schmerzhaft nachempfindbar. Allein auf die pyrotechnischen Rauchnebel, die gleich eingangs hinterm Altar dicht emporschwollen, hätte verzichtet werden können – ein unpassendes „Showelement“, ein Besucher sprang spontan auf, weil er wohl dachte, es brennt.

Sehr einfühlsam, auf die Texte eingehend – harmonisch, meditativ, atonal oder illustrierend – musizierte Renate Kubisch. Eigenkompositionen, Improvisationen und das Präludium aus der Cello-Suite Nr. 1 von J. S. Bach brachte sie am Cello, E-Cello und an einem nachgebauten historischem Monocord (ein langer Holzkasten mit Saiten innen und außen) zu Gehör. Ein ungewöhnlicher Celan-Abend, der noch lange nachklingt und dem weitere Aufführungen zu wünschen sind. (cs)