Meiningen. Sophie Lochmann liebt das Extreme. Einen 5500er hat die junge Schauspielerin bereits in den Anden während einer Reise durch Südamerika bestiegen. Einen 6000er zu schaffen, davon träumt sie noch. Extreme stellt sie auch als Zura in „Nordost“, ein Stück über das Geiseldrama in Tschetschenien, dar. Heute Abend ist Premiere in den Kammerspielen.

Zura ist eine der schwarzen Witwen, die 2002 in Tschetschenien die Freiheit ihres Volkes gegenüber Russland einforderten. Als Selbstmordattentäterin ist sie am Geiseldrama im Moskauer Theater zur Aufführung des Musicals „Nordost“ beteiligt. Zusammen mit anderen Rebellen will sie den Rückzug der russischen Truppe aus ihrem Heimatland erzwingen. Ansonsten wollen die Rebellen die 850 Zuschauer mit dem Theater in die Luft sprengen. „Die Tschetschenienkriege und dessen Folgen habe ich damals nur am Rande wahrgenommen. Sie wurden in Medien durch die Kriege im Irak und Afghanistan verdrängt“, erinnert sich die 25-jährige Schauspielerin. Ihr offener Blick und ihre sprudelnden Gedanken bringen sofort Nähe ins Gespräch.

Ursachen ergründet

Erst in Vorbereitung auf „Nordost“ hat sich die gebürtige Ost-Berlinerin mit der Geschichte Tschetscheniens beschäftigt. Heute weiß sie, dass die Tschetschenen von Stalin nach Sibirien deportiert wurden, später zwar in ihr Land zurück durften, aber der innere Konflikt weiter schwelte. „Mich interessiert, was eine Frau wie Zura dazu bewegt, eine Selbstmordattentäterin zu werden“, erklärt die Schauspielabsolventin. Im grausamen Krieg gab es viele Menschenrechtsverletzungen, die Militärs machten ihre Geschäfte und mordeten willkürlich. Der Autor des Stückes lässt drei Frauen mit ihren unterschiedlichen Schicksalen zu Wort kommen. Zura wurde alles genommen, ihr Mann ist tot, das Haus verloren, völlig mittel- und haltlos greift sie nach dem letzten Strohhalm. „Die Terroristen geben ihr Halt und wieder ein Lebensziel“, erklärt die Zura-Darstellerin.

Konflikt der Figur

Leider werde heute das Thema Terrorismus in der Öffentlichkeit immer nur im Zusammenhang mit seiner Bekämpfung diskutiert. Kaum einer denke dagegen über die Ursachen nach. Durch die Arbeit an diesem Stück wurde Sophie Lochmanns Blick geschärft. In Darmstadt traf sie sich sogar mit einer tschetschenischen Journalistin, die viel über Selbstmordattentäterinnen geschrieben hat. „Interessant ist für mich Zuras Konflikt zwischen Täterin und Opfer. Ihr wird klar, dass sie von den Rebellen auch benutzt wird, zu ihren Zweifeln kommen Angst und Überlebenswille“, psychologisiert die Schauspielerin über ihre Rolle.

In „Nordost“ ginge es darum, wie drei Frauen mit einer Extremsituation umgehen. Natürlich stehe dabei auch immer die Frage: Wie würde ich in einer solchen Situation handeln? „Ich spiele für Zura, weil sie selbst ihr Schicksal nicht öffentlich machen konnte“, sagt Sophie Lochmann aus voller Überzeugung. Überhaupt sieht die 25-Jährige darin den Sinn ihres Schauspielerberufs: „Zu schaffen, dass ich die Zuschauer mit meinen Rollen berühre, dass sie sich mit meiner Figur und ihren Konflikten identifizieren oder auch Vorurteile über das Verhalten anderer Menschen abschütteln können, dass sie auf der Bühne Menschen nahe kommen, denen sie im wirklichen Leben aus dem Weg gehen. Dass es mir irgendwie gelingt, sie einen Moment aus dem Alltag herauszureißen, um danach wieder neu oder sogar verändert in ihn zurückzukehren. Das ist für mich ein großer Traum.“

Ansonsten hat sich die sympathische junge Frau schon viele Träume in ihrem Leben erfüllt. Nach dem Abitur reiste sie zwei Jahre durch die Welt, das Geld hatte sie vorher als Kellnerin verdient. Mit Freunden war sie in Neuseeland, Australien, Südamerika, Indien: „Ich war neugierig, wollte Menschen und Länder kennenlernen.“ In Sydney absolvierte sie einen Schauspielkurs und wurde nach einem Vorspiel mit „Fräulein Julie“ sogar an der Schauspielschule angenommen. Australien gefiel ihr, vor allem das Lebensgefühl der Menschen – „die sind viel relaxter als wir“.

Trotzdem ging sie zurück, auch ein bisschen aus Sehnsucht nach dem Zuhausesein. In Stuttgart an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst begann die Weltgereiste im Herbst 2005 ihr Schauspielstudium, das sie in diesem Sommer abschloss. Als Studentin spielte sie in Stuttgart am Staatstheater die Marie im „Woyzeck“ und am Wilhelma Theater die Celia in „Wie es euch gefällt“, in Senftenberg stand sie als Hermia im „Sommernachtstraum“ auf der Bühne und in Darmstadt als Anja im „Kirschgarten“. In Meiningen spielte sie bereits in der vergangenen Spielzeit die Mondekar im „Dom Karlos“ ersatzweise für Dagmar Geppert.

Berge und Bühne

Künstlerisch durch ihre Eltern vorbelastet – beide sind Musiker – stand Sophie Lochmann schon als 14-Jährige auf der Bühne der Berliner Volksbühne und später als Praktikantin am Deutschen Theater. Ein traumhafter Weg – ohne alle Zukunftsängste? „Ich schlag mich durch, jede Krise macht stark. Und wenn ich eines Tages in Namibia mit Slumkindern Straßentheater mache“, ist sie sicher. Und den Traum vom 6000er will sie sich auch erfüllen, trotzdem sie beim 5500er Aufstieg in den Anden Todesängste ausstand. Aber: „Ich liebe die Berge und fühle mich ganz oben wie auf der Bühne, weil man dort die Welt aus einem anderen Blickwinkel sieht.“
Carola Scherzer