Die Verwandtschaft des Peter Drescher lebt über ganz Deutschland verstreut und sogar ein wenig darüber hinaus. Der Schriftsteller selbst wohnt seit 1994 in Thüringen, genauer: In Tiefenort an der Werra. Dreschers Sippschaft findet sich in der Niederlausitz und in Suhl, in Bayern und dem Erzgebirge, selbst in den USA. Der Grund: Dreschers Vorfahren waren Sudetendeutsche. Als sie nach dem zweiten Weltkrieg und den Benes-Dekreten ihre Heimat verlassen mussten, verstreute sie das Schicksal quer über das Land.

Drescher selbst, 1946 geboren, war noch nicht einmal ein Jahr alt, als die Eltern die Sachen packen mussten. Jede mögliche Erinnerung an diese kurze Zeit ist unauffindbar in seinem Kopf vergraben. Doch das Wissen darum aus den Erzählungen der Eltern muss doch an ihm genagt haben. Sein neues Buch "Wurzeln schlagen" ergründet die Frage der Bedeutung der Herkunft. Und wie das so seine Art ist, gibt Drescher keine Antworten. Er stellt noch nicht mal richtige Fragen. Nur ganz dezent lässt er sie dann und wann anklingen, lieber wartet er darauf, dass sich der Leser ihnen plötzlich ausgesetzt sieht.

"Es geht einfach darum, über seine Wurzeln nachzudenken", sagt Drescher. "Wenn ich etwa an mich denke: Bin ich ein Vertriebener? Nein. Oder bin ich ein Brandenburger, weil ich da viele Jahre gelebt habe? Oder bin ich doch ein Thüringer, weil ich jetzt da wohne?" Seine Mutter, erzählt er, hat zeitlebens von der Stadt, die damals Großleutensdorf hieß und auf deren Ortsschildern heute Litvinov steht, als ihrem "Zuhause" gesprochen.

Und das, betont Drescher mehrfach, das ist ihm wichtig, obwohl es ihm nicht die Spur um eine Art von Revanchismus oder dergleichen geht. Nur: "Man kann doch nicht im luftleeren Raum leben." Also einem Raum ohne gestern und morgen. Aber warum nicht?

Wesentliches im Halbsatz

Wie gesagt: Antworten hat Drescher nicht. Außer der saloppen Erkenntnis, "dass diese zehn Monate alles andere als prägend für mich waren, aber es doch wichtig ist, sich seiner Wurzeln zu erinnern."

So wie der ein wenig verbitterte Vorruheständler Horst Greinerstorf, Ich-Erzähler und Hauptfigur in Dreschers Buch. Ihm flattert die Anregung zur Erinnerung als Brief in den Briefkasten: Eine Geburtstagseinladung eines gewissen Jossi, Nachbarsjunge des elterlichen Hauses in Großleutensdorf/Litvinov.

Greinerstorf kannte diesen Jossi nur von der Erzählung der Mutter und einem einzigen Besuch vor mehr als 50 Jahren. Was kann dieser Jossi nur von ihm wollen? Als er versucht, diese Frage für sich zu beantworten, kommen in Horst Greinerstorf viele Erinnerungen wieder hoch. Gute wie schlechte. Und am Ende wird er neuen Lebensmut, eine neue Aufgabe gefunden haben.

Wer Dreschers Bücher kennt, weiß, dass sie oft kurz gehalten sind und nie mit so etwas wie Action oder Effekthascherei aufwarten. Gleich gar nicht mit zur Schau gestellter Erotik oder schockierender Gewalt. Der Schöpfer dieser Bücher hält sich stattdessen an die Beobachtung des Alltags und dessen realistischen Schilderung in knappen Strichen.

Wunderbar etwa beschreibt er im Buch die Erinnerung an ein Familienfest, bei dem die Sippschaft der Hauptfigur sich aus allen Himmelsrichtungen im sächsischen Erzgebirge versammelte. Um der alten Heimat jenseits des Gebirgskamms nicht nur gedanklich, sondern auch geografisch nah zu sein.

Drescher macht keine großen Worte, sondern versteckt das für ihn Wesentliche geradezu in Halbsätzen und Andeutungen. Ergebnis einer, wie er sagt, intensiven Ausbildung damals zu DDR-Zeiten, als Drescher als Jungtalent in der Evangelischen Verlagsanstalt Berlin gelandet war. "Wir haben wochenlang am Tisch gesessen", sagt er, "was ich da alles erlebt - und gelernt habe."

Oft am Rand stehen

Zum großen Ruhm hat es freilich nicht ganz gereicht. So zeugen Dreschers mittlerweile 15 Bücher von ausgeprägtem Enthusiasmus. Von der Schriftstellerei leben konnte er nie. Doch Drescher wirkt zufrieden und verweist auf die Kollegen: "In unserem Schriftstellerverband sind ja die unglaublichsten Berufe versammelt. Ein Grabredner ist auch dabei." Drescher war Buchhändler, bis er in Ruhestand ging, und leitet heute noch einen Literaturzirkel im nahen Bad Salzungen.

Auch Dreschers Helden sind meist alles andere als eindimensionale Gewinnertypen. Sie sind Menschen wie du und ich, stehen oft aber auch ein wenig am Rand. Das gewährt ihnen die Freiheit, unbefangen, objektiv und selbstkritisch zu urteilen. Und auch das verbindet Peter Dreschers Figuren mit ihrem Schöpfer.

Das Buch "Wurzeln schlagen" von Peter Drescher ist im Verlag Edition Winterwork erschienen und zum Preis von 8,90 Euro auch in den Geschäftsstellen unserer Zeitung erhältlich.