Ein paar Studenten eilen in die Hochschule. Den Wartenden mit einer Brille, die in den Achtzigerjahren schon mal modern war, kurzem Vollbart und Cordjacke beachten sie nicht. Lukas Rietzschel genießt diese Anonymität. Auf der Frankfurter Buchmesse war das anders. Über Nacht ist der Görlitzer mit seinem Romandebüt "Mit der Faust in die Welt schlagen" in der Literaturkritik und als Gast in Talkshows zum Ost-Versteher und Erklärer dieser "aufgeheizten Bundesrepublik" geworden. Der Autor winkt ab. Diese Superlative sind ihm zu viel.

Rietzschel steigt ins Auto, die Neiße ist nur wenige Schritte entfernt. Am anderen Ufer des Grenzflusses liegt das polnische Zgorzelec. Die Tour an diesem Vormittag soll ihn durch seine alte und neue Heimat führen. Diesen Landstrich hat er sich für sein Buch ausgesucht, um eine Geschichte zweier Brüder in Nachwendejahren zu erzählen, die in dieser Provinz langsam zu Nazis werden. Sein Debüt sei ein Versuch, "das Abrutschen einer Gesellschaft zu beschreiben und warum man sich von einer Gruppe, dem Staat, seiner Geschichte und seinen Idealen entfernt", erläutert Rietzschel.

Landschaft fliegt vorüber. Aus Laubwäldern im Lausitzer Hügelland werden weiter nordwärts Kiefernschläge. "Schön und morbide, ja karg, mancherorts ruinös", beschreibt Rietzschel diesen Osten Sachsens. Der Autor, Jahrgang 1994, ist in Kamenz aufgewachsen, einst Lessingstadt, zu DDR-Zeiten Militärstandort mit Flugplatz.

Freiheit ohne Halt

Erfolgsgeschichten sind rar in seiner Kindheit. Rietzschels Roman beschreibt genau diese Zeit nach dem Ende der DDR, als sich Eltern und Großeltern mit der neuen Zeit arrangieren müssen und die Kinder allein gelassen sind mit der um sich greifenden Ungewissheit. Es verschwinden Betriebe, Arbeitsplätze, Schulen, ganze Biografien. Die neue Freiheit bringt Orientierungslosigkeit. Es fehlt der Halt. "Wer mit offenen Augen geschaut hat, hat auch leere, umherschleichende Menschen gesehen. Diese Eindrücke, Geschichten und Erlebnissen haben mich begleitet. Das Buch habe ich für mich geschrieben", sagt der 24-Jährige.

Ein erster Zwischenstopp ist Demitz-Thumitz. Der Ort ist umringt von Steinbrüchen, in denen Granit abgebaut wird. In der Fachoberschule für Gestaltung bekam das Arbeiterkind Rietzschel seinen ersten Kontakt mit Kunst, Literatur und Kulturgeschichte. "Es gab in einem Atelier Ton, Pinsel, Leinwänden, auf denen wir uns nach Schule austoben konnten", sagt er. Und noch ein wichtiges Ereignis fiel in diese Zeit - der erste Liebeskummer. Vor lauter Schmerz ließ er sich auf einen Rat aus dem Internet ein. Bei abgewiesener Liebe sollte man zu Tolstois "Anna Karenina" greifen.

Der nach eigenen Worten damals "ungeübte Leser" verschlang den "alten Russen", "Krieg und Frieden" legte er nach. Dann folgten Autoren wie John Steinbeck oder Truman Capote. Thomas Manns Buddenbrooks legte er zur Seite: "Was interessiert mich eine adlige Familie mit Geldproblemen? Bei Steinbeck ging es um Arbeiter und Ungerechtigkeit, bei Capote um Alleinsein in der Landschaft. Das war nah dran an mir". Schließlich begann er selbst, zu schreiben.

Der 177er Bus fährt vorbei, mit dem es für Rietzschel früher zur Schule nach Demitz-Thumitz ging. Kurz vor Panschwitz-Kuckau mit dem Kloster St. Marienstern versucht ein Grünspecht mit dem Auto um die Wette zu fliegen. Rietzschel checkt per Handy Nachrichten. 50 Lesungen stehen bis Mai in seinem Terminplaner. Auf der Buchmesse versagte nach zwei Tagen seine Stimme, weil er Interviews im Halbstundentakt gab. "Aber jeder Hype sagt über die Hypenden doch mehr aus als über den Gehypten. Was ich gerade erlebe, offenbart, wie wenig man über diesen Osten und die DDR weiß. Da muss erst ein 24-Jähriger kommen", sagt der Autor.

Das stillgelegte Schamottewerk in Thonberg bleibt beim Fahren links liegen. Die Sprengung des Schornsteins beschreibt Rietzschel in seinem Roman. An diesem Morgen weht eine zerfledderte Gardine aus einem zerbrochenen Fenster. Die Werksuhr ist schon lange stehengeblieben und zeigt Tag und Nacht 20.08 Uhr an. Solarmodule auf einem Feld glänzen in der Sonne. Neue Welt trifft alte Welt. Vom Studium in Kassel hat er sich ganz bewusst für die Rückkehr in seine Heimat entschieden. "Ich wollte dableiben, wo alle weggehen - und helfen, Begegnungsräume und Kulturangebote zu schaffen", sagt er.

Rietzschel mischt im Literaturhaus Görlitz und in der Kommunalpolitik mit, weit weg von den Künstlerblasen in Leipzig oder Berlin. "Dort Gesicht zu zeigen, ist einfach. Hier war man bislang in der Unterzahl, wenn die AfD demonstrierte". Vor fünf Jahren, mit 19 Jahren, begann er seinen Roman zu schreiben, noch bevor die Gesellschaft augenscheinlich zerriss.

Kaum Zeit zum Schreiben

In einem Kamenzer Buchladen signiert Rietzschel zwei Exemplare seines Buchs. Momentan bleibt zum Schreiben wenig Zeit. Sein zweiter Roman wartet auf die letzten Zeilen. Wie der Erstling wird er in der ostsächsischen Provinz der Nachwendezeit spielen. "Das hat mit mir und den Menschen drumherum zu tun". Nach vier Stunden endet die Reise zwischen Vergangenheit und Gegenwart. "Ich muss aufpassen, dass ich als Schriftsteller und nicht als Ost-Versteher wahrgenommen werde. Aber Kunst ist ein Brennglas, bildet Gesellschaft und ihre Verfehlungen ab. Vielleicht sollten Politiker häufiger ein Buch lesen", sagt er. Ein paar gelbe Blätter fallen. Der Autor stopft die Hände in die Cordjacke. "Im Herbst und Frühling schielen alle auf die nächste Jahreszeit. Schade. Die Zwischentöne sind doch das Schöne", hängt er seinen Gedanken nach.

Lukas Rietzschel: "Mit der Faust in die Welt schlagen" - Ullstein-Verlag 2018, 20 Euro