Natürlich ist der 150. Geburtstag von Ernst Barlach längst vergangen - er war im Januar. Und auch die Sonderausstellung im Albertinum hätte eigentlich bereits wieder ihre Tore geschlossen. Wäre da nicht Corona. Positiv gesehen, gibt es nun mitten im Hochsommer einen guten neuen Grund, das schönste Museum Dresdens zu besuchen.

Barlach ist wohl einer jener Künstler, bei denen jeder sofort etwas vor Augen hat - meist eine Skulptur. Allerdings, wie die Direktorin des Albertinums Hilke Wagner sagt, in Ost und West mit unterschiedlichen Vorzeichen. Sie "als Kind des Westens" sei zunächst nicht unbedingt sehr begeistert gewesen bei der Idee der Retrospektive. Zu stark sei bei ihr der Eindruck des "Klischees protestantischer Andachtskunst" gewesen, mit dem Briefbeschwerer und auch sonstige Gebrauchsgegenstände verkauft wurden. Barlach sei in Westdeutschland eher mystisch, christlich-religiös, auch existenzphilosophisch rezipiert worden.

Im Osten jedoch sei es - nach 1951, als eine Rezension von Berthold Brecht den als "Formalisten" gebrandmarkten Künstler rehabilitierte - um den Humanisten und Sozialisten Barlach gegangen. Der selbst, so Wagner, habe sich stets gegen jegliche Schubladen gewehrt. Und so soll nun die Ausstellung, die eine Kooperation mit dem Ernst Barlach Haus in Hamburg und der Stiftung in Güstrow ist, einen frischen Blick auf den Künstler bieten.

Auf einen multimedialen Künstler. Das Zitat "Nun kann mir aber die Plastik nicht ganz genügen, deshalb zeichne ich und weil mir das nicht ganz genügt, schreibe ich" steht am Beginn der Ausstellung, die sich eben nicht nur dem Schaffen Barlachs als Bildhauer, sondern auch als Zeichner, Grafiker, Dramatiker und Romancier widmet. Sogar ein Ölgemälde ist dabei - ein nicht unbedingt herausragendes Selbstbildnis des jungen Mannes während seiner Pariser Jahre von 1895 bis 1897.

Stationen seines Lebens

Schön nachvollziehbar werden die einzelnen Stationen des Lebens und Arbeitens nachgezeichnet, beginnend mit der Ausbildung an der Gewerbekunstschule in Hamburg, über vier Jahre an der Dresdner Akademie, nach Paris. Jeweils mit treffenden Zitaten von ihm und ein wenig Hintergrundinformation versehen. "Nun lebe ich hier als Bohémien", sagt er über die Jahre in Paris - mit dem Zusatz: "Wie ich’s aus den Büchern gelernt." Die Zeichnung einer Straßenszene zeigt ihn bereits als den Expressionisten, der er später werden sollte, während die "Ballpause" einen Toulouse-Lautrec-ähnlichen Blick auf Vergnügungen bietet.

Nach Paris folgten diverse Stationen in Deutschland, mündend in Berlin. Aus dieser Zeit ist zum Beispiel ein eindrucksvolles Zeugnis seiner Depression zu sehen - die Kohlezeichnung eines verzweifelten Menschen mit dem harschen Titel "Hilf dir selbst".

So eindrucksvoll die Zeichnungen auch sind - viele wirken dann doch eher als Vorstudien zu späteren Skulpturen. Astrid Nielsen, die Kuratorin der Schau, zitiert den Künstler: "Als ich Ton in die Hand bekam, ging ich los wie ein Gaul." Und als er gemeinsam mit seinem Bruder Nikolaus 1906 eine Reise ins südliche Russland, die heutige Ukraine, unternahm, wo der dritte Bruder als Ingenieur arbeitete, fand er seine Themen: die Armut, die Bettler, die einfachen Menschen.

Der darauffolgende Umzug nach Güstrow, wo er ein endgültiges Zuhause fand - für sich, seine Mutter und sein Kind, für das er das Sorgerecht erstritten hatte -, sorgte dafür, dass der Künstler den Gipfel seines Schaffens erreichte: Etwa 100 Holzskulpturen, Tausende Zeichnungen, Grafiken, Holzschnitte, Dramen und Prosawerke entstanden dort.

"Entarteter" Künstler

Eine treffliche Auswahl daraus wird in der Ausstellung gezeigt. Darunter "Frierendes Mädchen", das sich nach 83 Jahren nun für fünf Monate wieder in Dresden wärmen darf. Die Nationalsozialisten, die Barlach als "entarteten Künstler" einstuften, hatten ihn mit Berufsverbot belegt, seine Werke aus den Sammlungen beschlagnahmt. Es sei ein wenig "Detektivarbeit" gewesen, den aktuellen Besitzer der Skulptur herauszufinden, so Astrid Nielsen.

Werke wie "Tanzende Alte" und "Vergnügtes Einbein" zeigen, dass Barlach nicht nur das Elend armer Menschen abbildete, sondern sie facettenreicher sah. Besonders sehenswert sind zahlreiche Skizzenbücher. Das "russische Tagebuch", Dokument jener wichtigen Reise, ist auch komplett als Scan an einem Display durchzublättern - 103 Seiten voll interessanter Skizzen. Allein davor müsste man eigentlich eine Stunde verbringen. Es gilt: Zeit mitbringen für diese lohnenswerte Schau!

"Ernst Barlach zum 150. Geburtstag. Eine Retrospektive" - bis zum 10. Januar 2021 im Albertinum Dresden.