Das waren noch Zeiten, da der "Streit" um ein einziges Wort die (sowjetische) Gesellschaft aufrührte und aufrüttelte. Es ging schlicht um Barmherzigkeit, die der Gesellschaft abhanden gekommen schien. Daniil Granin musste erst schwer stürzen, um zu sehen, dass die Barmherzigkeit in seinem Lande erstorben war und für alle Unbill der Staat zuständig erklärt wurde. Heute scheint dieses Wort "Barmherzigkeit" nicht einmal mehr bekannt zu sein. Sind es doch die acht Werke der Barmherzigkeit, welche die Menschlichkeit einer Gesellschaft ausmachen, die eben aus Individuen besteht, die dem anderen ihre helfende Hand und ihr mitfühlendes Herz schenken, die gleichzeitig dafür sorgen, dass sich die Gemeinschaft aller um ihre Schwachen und Opfer, um Gestrauchelte und Verfolgte kümmert.

Granins Sturz auf einer belebten Leningrader Straße 1985 ließ den Dichter, der im Krieg als Bataillonskommandeur an der Verteidigung Leningrads mitgewirkt hatte, zu einem der großen Moralisten der sowjetisch-russischen Literatur werden. In dem Essay wird Granin sehr persönlich: "Voriges Jahr passierte mir ein Missgeschick. Ich rutschte auf der Straße aus und fiel hin. Ich fiel unglücklich, schlimmer hätte es kaum kommen können - mit dem Gesicht auf die Bordsteinkante. Ich brach mir das Nasenbein, renkte mir den Arm aus, so dass er herabhing wie eine Peitsche. Gegen sieben Uhr abends war das. Im Stadtzentrum, auf dem Kirow-Prospekt.

Warum half keiner?

Mühsam rappelte ich mich auf, schleppte mich zum nächsten Hauseingang, versuchte das Blut mit dem Taschentuch zu stillen. Vergebens. Ich spürte den Schock, der Schmerz wurde immer stärker, ich musste rasch etwas unternehmen. Sprechen konnte ich nicht - ich hatte mir den Mund aufgeschlagen. Was tun? Ich beschloss umzukehren, nach Hause. So ging ich also los, ohne zu schwanken, glaube ich. Später habe ich oft über diese Geschichte nachgedacht. War es möglich, dass mich die Leute für betrunken hielten? Aber selbst wenn sie mich für betrunken hielten, sahen sie doch, dass ich blutverschmiert war, dass mir etwas zugestoßen war. Warum halfen sie mir nicht oder fragten nicht wenigstens, was ich habe? Ist etwa eine solche Reaktion - vorbeigehen, sich heraushalten, keine Zeit und Kraft verlieren - schon zu etwas ganz Normalem geworden?"

Wie viele andere hatte ich seinen Aufsatz gelesen. In der Zeitschrift "Sinn und Form" war er auch in der DDR gedruckt worden und hatte Diskussionen ausgelöst über das nie ganz lösbare Spannungsverhältnis zwischen der Verantwortung des Einzelnen und der Verantwortung der Gesellschaft. Man bedenke: Ein Essay in einer anspruchsvollen literarischen Zeitschrift löst öffentliche Debatten aus - in der Sowjetunion und in der DDR!

Granin hatte sich sein Leben lang mit ethischen Fragen beschäftigt und dabei den Brückenschlag zur Wissenschaft, zu Biologie und zur Physik in seinen literarischen Werken geschlagen. Er nahm teil an der Begegnung der Schriftsteller für den Frieden in Ost-Berlin im Dezember 1981. Seine innere Verpflichtung, für Frieden und Verständigung zu wirken, war und blieb gespeist von Erinnerung an Leid und der Widerstandskraft der Leningrader. Damals, in der Phase des Wettrüstens, sagte er: "Obwohl der Krieg auch sehr viel in unserem Bewusstsein hinterlassen hat, war der Krieg doch ein Unglück. Er bedeutete Kummer und Elend für mich und mein Volk. Ja, wir haben gesiegt, wir haben den Faschismus zerschlagen. Aber die Gefahr des Krieges bleibt weiter bestehen. Und wenn man jetzt davon spricht, warum wir überhaupt aufrüsten und bei uns rüsten, dann ist es ja praktisch doch ein Erbe des Krieges, der uns überraschte und uns so teuer zu stehen kam. Der Kampf um den Frieden, was ist denn das? Das ist ein Kampf um die Abrüstung."

Nur nicht schweigen

"Als ich Günter Grass zugehört habe, schreibt er, "habe ich mich auch bemüht, ihn zu verstehen. Warum demonstriert man im Westen gegen die amerikanische Aufrüstung? Und warum geht man bei uns nicht auf die Straße, um zu protestieren gegen die Rüstung im sozialistischen Lager? Ich möchte nicht die Ächtung unserer Waffen in der gegenwärtigen Lage fordern, ausgehend davon, was mein Volk erleiden musste. Ich glaube, dass wir uns streiten sollten und dass wir uns sogar beleidigt fühlen und beschimpfen könnten. Auch das wäre besser, als zu schweigen. Es ist jetzt wichtig, dass man lernt, einander zuzuhören, dass man sich für die lebendigen, anderen, uns fremden Menschen interessiert." Gilt auch 2017 noch der Titel des Jewtuschenko-Gedichts "Meinst du, die Russen wollen Krieg?"

Gespräch mit Schmidt

Im Juni 1990 besuchte ich Granin in Leningrad im Auftrag der Akademie der Künste. Ich erinnere mich, wie er mich eindringlich, sehr lange schweigend ansah, nachdem er seine Frage sorgenvoll in den Raum gestellt hatte: "Was wird nun aus unserer Freundschaft?" - also der zwischen Deutschen und Russen. Indes entwickelte sich zwischen uns eine herzliche Freundschaft. Er kam - auch zusammen mit seiner Frau - mehrfach zu uns nach Wittenberg. Er interessierte sich wie Peter der Große für Martin Luther. Und welch bewegende Begegnung von zwei ehemaligen Soldaten an der Leningrader Front konnten wir erleben - ein Gespräch zwischen den früheren Offizieren Helmut Schmidt und Daniil Granin, zwischen einem Verteidiger und einem Angreifer! 2006 besuchte ich ihn noch einmal - in Petersburg. Er kam vor genau zehn Jahren noch einmal nach Wittenberg. Diesmal war er im Gespräch mit Wolfgang Leonhard und dem Historiker Peter Krupnikov.

Der gesamtdeutschen Öffentlichkeit wurde Daniil Granin erst durch die Rede bekannt, die er zur 70. Wiederkehr der Beendigung der Belagerung Leningrads im Januar 1944 im Bundestag hielt. Äußerlich sehr gebrechlich, innerlich sehr stark. Was er sagte, das war so erhellend wie bewegend.

Im Mai 1942 hatte Granin mit anderen ganze Berge von Leichen, die vor den Friedhöfen lagen, auf Lastwagen geworfen. "Ich habe nie wieder im Leben ein grausigeres Erlebnis gehabt", schreibt er. Die Helden der Stadt seien namenlose Passanten gewesen - Menschen, in denen das Mitgefühl erwacht war. Dieses Mitgefühl sei immer stärker geworden. Er habe lange gebraucht, um sich zu entscheiden, über "seinen Krieg" zu schreiben, sagte Granin. Er wollte den Menschen mitteilen, "dass wir einen Sieg errungen haben, der gerecht war. Es gibt wahrscheinlich einen sakralen Raum, in dem der Mensch des Sieges teilhaftig wird. Wo das Wichtigste die Liebe zu den Menschen und zum Leben ist". Zu den Eingeschlossenen hatte damals auch der Komponist Dmitri Schostakowitsch gezählt.

Und wir haben uns damals auch darüber unterhalten, was aus Deutschen und Russen wird, wenn Deutschland sich vereinigt. Was wird aus dem, was der Literaturwissenschaftler Hans Mayer einen "Versuch" genannt hatte? Den Versuch einer demokratischen, sozialistischen Gesellschaft. Granin meinte damals, man solle wenigstens das, was daran Versuch war, noch im Blick behalten. Für uns hatte die Literatur Daniil Granins große Bedeutung, aber auch seine persönliche Rolle in der Perestroika. Ich erinnere mich, welch erregte Debatte es gab, als die Novelle "Unser Bataillonskommandeur" in der schwarzen "spektrum"-Reihe des Verlages Volk und Welt veröffentlicht wurde.

Phänomen Angst

Der ein oder andere kennt vielleicht "Das Blockadebuch", in dem Daniil Granin, der studierte Elektroingenieur, gemeinsam mit Ales Adamowitsch Berichte von Überlebenden der Leningrader Blockade gesammelt hat. In "Das Jahrhundert der Angst" beschreibt er das Phänomen der Angst, die unserer Epoche, die seine Zeit geprägt hat, wie Menschen Angst verinnerlicht haben und welche Folgen das hat. "Als ich nach dem Krieg das erste Mal nach Deutschland kam - man hatte mich 1956 oder 1957 eingeladen, weil mein Buch erschienen war - habe ich mir alle Deutschen meines Alters angeschaut, und ich habe sie immer betrachtet, als wären sie meine Feinde. Ich habe das ein Treffen genannt, bei dem wir aneinander vorbeigeschossen haben. Sie haben auf mich geschossen, ich habe auf sie geschossen. Sie leben noch, und ich lebe noch. Das war schwer. Es war ein langer, schwerer Weg, den ich gegangen bin, den viele Sowjetmenschen gegangen sind. Das Blut der Verletzten ist ein und dasselbe, der Schmerz und die Leiden sind dieselben, die Angst vor dem Tod ist dieselbe." Er hat es gesehen. Aber bei uns, die wir im Banne dieses Hasses, unseres Hasses, waren, ist in der Literatur sehr wenig davon zu spüren. Und das ist es ein historisch unerwartetes Ereignis, dass wir Deutschen und Russen in diesen Jahren ein doch auch freundschaftliches Verhältnis entwickelt haben. Aber das ging wohl eher von den Russen aus, die ihren Hass überwunden hatten, als von uns, die wir die Angreifer waren.

Ein neues Verhältnis

Im Geiste dieses großen Autors sollte der Dialog mit Russland wieder geführt werden. Auch wenn die gegenwärtige westliche wie auch deutsche Politik für Verständigung und Versöhnung keine besonders guten Bedingungen bereithält, so war doch die Rede des Bundestagspräsidenten Lammert eine nicht hoch genug zu rühmende Chance für ein neues, ein friedliches, vertrauensvolles Verhältnis auch zu Russland. Die deutsch-französische Versöhnung beruht auch darauf, dass es zu keinem Nachkarten gekommen ist. Auch zu Russland brauchen wir nun einen Wandel durch (Neu-)Annäherung. Nie aus dem Auge verlierend, dass die Russen uns Deutsche unter großen Opfern von den Nazis befreit haben. Und die Russen haben uns Deutsche nicht nachhaltig bestraft oder gar gehasst. Es wird in Europa keinen Frieden geben, wenn es nicht auch ein entspanntes Verhältnis zu Russland gibt. Das kann politische Kritik einschließen, sofern sie sich aus gegenseitigem Vertrauen gespeist, statt vom Misstrauen vergiftet ist. Die Schriftsteller hatten immer schon die geistige Kraft als Wegbereiter für eine Politik zugunsten des Friedens zu werden - oder eben zurückzufallen in nationale oder nationalistische Töne.

Daniil Granin war einer, der sich nicht wieder in die Schützengräben begeben wollte, auch nicht in die Schützengräben von Vorurteilen, Überlegenheitsposen, ideologischer Rechthaberei und ewigen Schulddebatten. Mit 98 Jahren ist er am 4. Juli gestorben. Für mich war er ein Repräsentant dessen, was Gorbatschow einige Jahre zuvor als "Volksdiplomatie" benannt hatte, wo die Völker eher als die offizielle Politik wieder Achtung und Respekt füreinander gewinnen, ohne freilich zu übergehen, welche Schrecken die Deutschen mit dem 22. Juni 1941 ausgelöst hatten. Mit gehörigem Pathos füge ich gerade jetzt bei weitgehendem Schweigen der Regierungen an: Es lebe die deutsch-russische Freundschaft, die sich gegen niemanden richtet! Und, ja: Literatur war, ist und bleibt eine Brücke.