Für den Schriftsteller Günter Kunert ist die Menschheit verloren. Es sei nur eine Frage der Zeit, sagt Kunert, der heute, am 6. März, seinen 90. Geburtstag feiert. Kunert. Er verweist auf den Raubbau an der Erde, das erwartete Anwachsen der Weltbevölkerung auf elf Milliarden Menschen und den Klimawandel. Er sei Realist, kein Pessimist. Positive Perspektiven sieht er nicht: "Hoffnungen sind der Schaum auf der menschlichen Existenz, sie erfüllen sich nicht."

Zur Person

Günter Kunert verließ 1979 die DDR. Seitdem lebt der gebürtige Berliner in Schleswig-Holstein. Der sehr produktive Autor ist vor allem Lyriker, schrieb aber auch Essays, Reiseberichte, Filmdrehbücher, seine Biografie "Erwachsenenspiele" und Hörspiele. Gerade erschien sein vor 45 Jahren verfasster, erst jetzt publizierter DDR-Roman "Die zweite Frau". Kunert erhielt den Johannes R. Becher-Preis in der DDR, den Heine-Preis der Stadt Düsseldorf, den Hölderlin-Preis, den Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik und den Kunstpreis des Landes Schleswig-Holstein.

Von den Nazis als "Halbjude" verunglimpft, haben Sie als Kind in Berlin erlebt, wie Verwandte deportiert und ermordet wurden. Hat Sie das traumatisiert?

Ja selbstverständlich. Ich hatte als Kind aber dank meiner Mutter eine andere Heimat gefunden, nämlich in der Literatur. Ich habe viel gelesen. Meine Mutter fuhr fast jede Woche zu einem Antiquariat, das auch wie eine Höhle war, ein düsterer Laden mit 15-Watt Birnen. Der Besitzer, Herr Wiese, hatte schon unter dem Ladentisch immer was vorbereitet. Das meiste war verbotene Literatur. Meine Mutter kam dann mit einer Tasche voller Bücher nach Hause und kippte die aus. Ich lag im Bett und fing an zu lesen. Das tut man natürlich nicht ungestraft, ich bin also Schriftsteller geworden.

1948, ein Jahr vor Gründung der DDR, sind Sie als 19-Jähriger in die SED eingetreten - warum?

Meine Mutter trat in die SED ein und meinte "die Kommunisten waren die einzigen, die sich wirklich gegen Hitler gewehrt haben". Es war eine Zeit voller Hoffnung, jetzt kommt etwas ganz Neues, eine neue Zeit bricht an. Ich habe das damals wie viele andere junge Leute so erlebt. Bis ich merkte, dass die neue Zeit so neu doch nicht wird, dauerte das lange. Aber ich war natürlich auch fixiert auf meine Vergangenheit und auch meine eigenen Erfahrungen in der Nazizeit.

1976 protestierten Sie gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, 1979 ließ man sie wie andere kritische Geister in den Westen. War der SED-Staat eine Diktatur - nur unter sozialistischer Tarnung? Oder war es ein misslungenes politisches Experiment?

Es war von allem etwas. Es war natürlich eine Diktatur. Aber sie stand, das muss man auch sagen, auf sowjetischen Marionetten. Das heißt: Im Grunde waren "die führenden Genossen" - wie es immer so schön hieß - selber Gefangene des Systems. Sie kamen aus der Sowjetunion. Sie waren geprügelte Knechte, die Moskau überlebt hatten. Ich glaube, diese Leute, die diesen Staat machten in den oberen Rängen, waren selber unerhört unfrei.

Vor 45 Jahren schrieben Sie den kritischen DDR-Roman "Die zweite Frau", den Sie aber für sich behielten, dann vergaßen und erst jetzt veröffentlicht haben. Erinnern Sie sich noch an das Entstehen?

Ich war ja oft in der DDR in einer unguten Situation, aber Mitte der Siebzigerjahre sah es sehr bedrohlich aus - schon vor der Biermann-Affäre. Ich habe mich beim Schreiben an diesem Manuskript festgehalten - aber immer mit dem Wissen: Das kann ich nicht veröffentlichen, in der DDR sowieso nicht und im Westen nur, wenn ich anschließend in der DDR gefilterte Luft atmen wollte. Ich habe mich praktisch entlastet.

Ein neuer Sozialismus ist in Deutschland nicht in Sicht, Populismus und Rechtsextremismus nehmen zu. Haben Sie Sorge um die Demokratie?

Ich habe ganz andere Sorgen. Wenn ich das Fernsehen heute mit dem vor 30 Jahren vergleiche, dann sehe ich einen Niedergang, der erschreckend ist. Und ich sehe auch, dass überall ein kultureller Verfall eintritt, der wirklich das Schlimmste befürchten lässt. Wir brauchen gar keinen neuen Hitler oder kein neues Drittes Reich und keinen neuen Sozialismus. Das ist alles überflüssig. Die Leute kriegen diese kleinen Gerätchen (Anm.: Smartphones) und tippen mit ihren Fingerchen an den Dingern herum und sind eigentlich das, was mit den Geräten kommt: Sie werden selber zur Massenware. Überhaupt ist eine Tendenz spürbar in den Menschen zurück zu einer Masse hin. Und das halte ich eher für eine Gefahr, weil Masse steuerbar ist.

Der frühere Hanser-Verleger Michael Krüger sieht Sie als Dichter in der Tradition Heinrich Heines: Wie Heine haben Sie ein gewaltiges, ideologiekritisches Werk vorgelegt, allerdings imprägniert von einer geschichtsphilosophischen Skepsis. Sie würden dem Menschen "fast alles zutrauen, vor allem aber alles Schlechte". Richtig?

Nicht ganz. Heine hat ja auch immer optimistische Züge, die ich längst nicht mehr habe. Stichwort Bevölkerungswachstum: Es gibt Prognosen, bei elf Milliarden werde die Menschheit nicht weiter wachsen. Da sage ich nur: Bei elf Milliarden ist sowieso Schluss. Wie sollen denn auf einem Planeten, dessen Boden ausgelaugt wird, bei dem die bebaubaren Flächen immer kleiner werden, der Meeresspiegel immer weiter ansteigt - elf Milliarden Menschen ernährt werden? Undenkbar!

Halten Sie die Menschheit für verloren?

Absolut.

Es ist nur eine Frage der Zeit?

So ist es. Es wird - ich werde es nicht mehr erleben - eine große Reduktion kommen. Es werden unbekannte Krankheiten auftauchen. Heute sind ja schon manche Krankheiten nicht mehr mit den üblichen Mitteln wie Penicillin et cetera zu bekämpfen, da wir das alles ja schon zu uns nehmen im Fleisch und in anderen Nahrungsmitteln. Wir werden resistent gegen Antibiotika. Dazu kommt, dass wir Plastik fressen, unentwegt. Das alles läuft auf einen Endpunkt zu. Dinosaurier gab es 140 Millionen Jahre lang. Sie glauben doch nicht, dass es die Menschheit noch in 140 Millionen Jahren gibt!

Sie sind Schriftsteller geworden, obwohl Sie Literatur für wirkungslos halten. Haben Sie es nie bereut, zu schreiben?

Überhaupt nicht, was soll ich sonst tun? Dann könnte ich mich ja erschießen.

Sie wirken pessimistisch und heiter zugleich?

Alle Pessimisten sind heiter, wussten Sie das nicht? Ich bin kein Pessimist, ich finde den Begriff einfach falsch. Ich bin Realist. Ich sehe und lese täglich und höre, was in der Welt vorgeht. Da kann ich nicht so tun, als wäre alles wunderbar und in Ordnung.

Aber gibt es nicht Lichtblicke, wie die junge Schwedin Greta Thunberg, die zu Schülerprotesten gegen den Klimawandel aufruft?

Ventil, Ventil, Ventil. Sie glauben doch nicht, dies hat eine Wirkung? Dass plötzlich Konzerne sagen "Jetzt bauen wir keine Autos mehr, Diesel wird nicht mehr produziert". Glauben Sie das?

Aber ist es nicht ein Hoffnungszeichen, dass junge Menschen politisches Bewusstsein entwickeln?

In jeder Generation heißt es: "Die Jungen werden es besser machen". Es wurde nie besser. Denken Sie an die Studentenbewegung, an das revolutionäre Element der 1960er. Was ist geblieben? Saturierte Bürger! Das war das Ende. Die Ideale sind schlafen gegangen.

Ihrer Biografie "Erwachsenenspiele" stellen Sie ein Zitat Montaignes voran: "Unglücklich ist, wer sich um die Zukunft sorgt" - auch ein Plädoyer, das Leben nicht auf Visionen zu verschieben

Ja, weil die Hoffnungen nie erfüllt werden können. Hoffnungen sind der Schaum auf der menschlichen Existenz. Während einer Reise habe ich "Das Prinzip Hoffnung" von Ernst Bloch gelesen. Da dachte ich: Lieber Ernst, Du bist ja naiv - ein Naiver. Und mir ist klar geworden, dass dies wahrscheinlich auch mit dem Judentum zu tun hatte. Dass diese schreckliche Vergangenheitsgeschichte nicht in der Nazizeit ihren Ursprung hatte, sondern schon seit der Vertreibung aus Israel in biblischer Zeit immer eine Geschichte der Verfolgung war. Dass dann natürlich so etwas wie das "Prinzip Hoffnung" erblühen musste. Da musste ein Marx kommen, auch ein Hoffnungsspender, weil aus dieser fernen, schrecklichen Vergangenheit eines Volkes oder einer Glaubensgemeinschaft ein Gegenmittel produziert werden musste - und das war die Hoffnung. Aber es ist ein Sedativ und hilft nichts gegen die Wirklichkeit. Das wäre mein Schlusswort.

Interview: Matthias Hoenig