Nach Thomas Manns Satz "Tief ist der Brunnen der Vergangenheit" sucht auch der Filmregisseur und Autor Roehler nach den "Quellen des Lebens", wie die eigene Verfilmung seines weitgehend autobiografischen Romans "Herkunft" heißt. Im neuen Roman "Der Mangel" wirft er jetzt einen Blick zurück. Diesmal schildert Roehler den Überlebenskampf eines Kindes und die folgende Selbstbehauptung als Künstler, teilweise in eindrücklichen Bildern und dann auch wieder arg metaphernhaft.

Als der kleine Junge im Roman einmal an der Tür des Elternzimmers lauscht, hört er über sich sagen, er sei "im Begriff, gewisse Symptome von Wahnsinn zu zeigen". Später wird der erwachsen gewordene Erzähler von einer "permanenten Angst und einem permanenten Druck" als "ständige Begleiter meines unsteten und unruhigen Lebens" sprechen, auch von einem ersten Selbstmordversuch.

Roehler erzählt einerseits von einer kleinen Gruppe von Kindern Anfang der Sechzigerjahre in einer im Bau befindlichen Siedlung von Einfamilienhäusern im trostlosen damaligen "Zonenrandgebiet", wie die westdeutsche Seite zur DDR genannt wurde. Hier sind Kinder eher lästig und üben umso mehr den Zusammenhalt. Andererseits erzählt der Autor auch von den späteren Rettungsversuchen in ein Künstlerleben. "Es war nie um anderes gegangen, als die Jahre 1963 bis 1965 heraufzubeschwören und unsere Kindheit an einen sicheren Ort, nämlich zu Papier zu bringen", heißt es in dem Buch.

Bei Roehler ist es eine Kindheit, die nach der Mangelgesellschaft der Eltern in der frühen Nachkriegszeit einen Mangel an Zuwendung und Wärme erlebt beziehungsweise erleidet, wobei der Autor mit der nächsten Elterngeneration in den rebellischen Sechzigerjahren hart ins Gericht geht. "Für die Befindlichkeiten ihrer Kinder hatten sie überhaupt keine Zeit." Diese Unbekümmertheit der Erwachsenen den Bedürfnissen der Kinder gegenüber "hatte oft etwas Demütigendes und Verletzendes". Über diese damalige "Möchtegern-Revolutionäre" zwischen Bohème, Mao-Fantasien und Karriere kann man auch einiges in Jörg Fausers Roman "Rohstoff" nachlesen.

Bei Roehler folgte die Flucht in die eigene Fantasiewelt, in Kunst und Kultur, zu Beckett, Kafka und Thomas Bernhard. Mit 24 trieb sich der Ich-Erzähler "völlig verloren und ohne Ziel in Westberlin herum", in der politischen Halbstadt mit ihrer Subkultur und ohne Wehrpflicht in der damaligen Bonner Republik, die an der Spree "Westdeutschland" genannt wurde. Es schien die "aufregende Stadt" mit dem "summer of love", wie der "richtige Vater" dem Jungen vorgeschwärmt hatte.

Die fiktiv-autobiografische und parabelhafte Geschichte erzählt Roehler in teils beklemmenden Bildern, wobei auch Pathos nicht zu kurz kommt. Jedenfalls hat Roehler wieder den "Humus" seines Lebens benutzt, wie er schon früher einmal über seine Arbeiten sagte, was ja eigentlich auch jeder Künstler, Filmemacher oder Schriftsteller mehr oder weniger tut oder tun muss. Und Roehler schildert erneut die Schwierigkeiten, mancher oder vieler Menschen, "überhaupt ins Leben reinzukommen" oder sogar an ihrer Selbstbehauptung beziehungsweise Selbstverwirklichung fast oder wirklich zu zerbrechen. Beispiele aus der Achtundsechziger Generation sind ihm Warnung genug, wie es Roehler in seinem neuen Roman eindrücklich beschreibt, zeitlose Warnungen vor dem Drama des ungeliebten Kindes.

Oskar Roehler: "Der Mangel", Ullstein-Verlag Berlin - 23 Euro