So wenig ändern sich bei manchen die Längen- und Breitengrade. Als Stefan Schael vor kurzem für einen Gastauftritt zum 25-jährigen Bestehen der Meininger Theater-Freunde in der Garderobe des Theaters in den schwarzen Anzug schlüpfte, den er schon vor über neunzehn Jahren als liebender Lysander im „Sommernachtstraum“ getragen hatte, da passte der noch wie angegossen.

Der als Elvis, Bürobote Eros Ramazotti und als Comedian Harmonist zum Meininger Publikumsliebling avancierte, naturgelockte Stefan Schael soll hier nicht allein auf seine musikalisch-schauspielerischen Talente festlegt werden. Trotzdem muss bereits an dieser Stelle eine Impression von der fünfzigsten und letzten Elvis-Vorstellung im Meininger Theater eingefügt werden, die unter anderem Stefan Schaels immerwährende Konfektionsgröße beschwört.

Freies Wort vom 2. Juni 2000 unter dem Titel “‚Elvis‘ muss sterben, Stefan wird leben“:

Trauer? Erschütterung? Verzweiflung? – „Elvis“, die fünfzigste und letzte Vorstellung im Meininger Theater. …Von Erschütterung und Verzweiflung keine Spur. Denn alle in der Music Hall von Memphis-Meiningen wissen: Elvis Presley kann sterben wie und wann er will, Stefan Schael bleibt den Girlies und Knaben jeden Alters erhalten.

Der Erfolg dieser Musikshow ist zuerst der körperlichen und stimmlichen Präsenz unseres Helden Stefan zu verdanken. Dann den Songs. Dann den musikalischen Arrangements … Elvis‘ Lebensgeschichte im dramatischen Stenogramm hingegen – vergessen wir sie.

Stefan Schael leibt, lebt und singt, bleibt rank und schlank – vorerst jedenfalls – und brusthaararm und pflegt das sonore erotische Timbre in der Stimme, das die Girlies erzittern und die Knaben erbleichen lässt. Und da die Meininger Theatermacher allein aus Quotengründen Verfechter der Reinkarnationslehre sind, lassen sie den Barden bestimmt bald wieder in einem anderen Körper auferstehen. ... Ja, der Ruhm des Helden Elvis-Stefan blüht noch einmal auf im Scheinwerferkegel vor Sternchenhimmel und Superglitzershowbühne. Zu vereinzeltem Kreischen aus dem dritten Rang tritt alsbald rhythmisches Klatschen, Jubeln, Pfeifen, dann Kreischen selbst von den teuren Plätzen. Und mit der Zeit hört man auf, sich zu fragen: „Was macht die so verrückt?“ … Je mehr gesungen wird, desto verzückter das Publikum. Und wenn die Songs Leidenschaft oder Seele ausstrahlen oder beides, oder wenn es einfach so richtig rockt und rollt, dann sind die Girlies und Knaben aus dem Häuschen. … Schade, dass diese Beerdigungsfeier nicht zur orgiastischen Rock’n-Roll-Tanzfete verkommen durfte. Hierzulande wird ordentlich getrauert. Friede der Asche. Warten wir mal ab, welcher Phoenix demnächst aus derselben steigt.


Elvis‘ Asche entstieg Stefan Schael als Bariton Roman Cycowski. Er feierte in dieser Rolle im Kreise seiner
Comedian Harmonists noch einmal Publikumserfolge, die heute so gar nicht mehr vorstellbar sind – 82 Aufführungen! Die endeten nicht in der Ära Mielitz, die die Schauspielerei relativ frei schalten und walten ließ, so lange ihre musiktheatralischen Pläne nicht gestört wurden. Stefan Schaels Karrierebruch kam erst 2003, mit dem nächsten Prinzipal: Res Bosshart. Der Künstler heute: „Das war schon hinterfotzig. Er hat mir zuerst auf dem Gang immer wieder auf die Schulter geklopft: ‚Toll! Super!‘ Plötzlich lag die Einladung zum persönlichen Gespräch im Fach. Und da hieß es: ‚Ich kann nichts mit dir anfangen.‘ Ich war zwar pikiert und irritiert, hatte aber keine Lust zu kämpfen. Gerächt habe ich mich mit meinem Abschlusskonzert „Schael-House-Rock“, einem musikalischen Abend mit den Highlights aus zehn Jahren. Das Haus war proppenvoll, das war ne Gaudi! Sowas gab’s ja zu Bossharts Zeiten gar nicht mehr.“

Der Schauspieler und Sänger hat danach den Dunstkreis des Meininger Theaters zwar beruflich verlassen müssen, privat jedoch hält es ihn nach wie vor in seinem kleinen Refugium in der 50-Seelen-Gemeinde Gleimershausen nahe Meiningen. Und trotzdem muss schon ein paar Welten durchwandern, um dem Theater nahe zu sein. Mit seiner eigenen Hände Arbeit – die liebt er, neben seiner künstlerischen Tätigkeit – hat Stefan Schael das Fachwerkhäuschen rundum erneuert. Als Gast fühlt man sich in den kuscheligen Räumen zwar wohl, spürt aber gleichzeitig, dass das Domizil für den Hausherrn auch nach zwanzig Jahren immer noch so etwas wie den Status des Nicht-ganz-Fertigen besitzt. Natürlich hat das vor allem damit zu tun, dass er als freischaffender Künstler nie ganz und gar zu Hause sein kann, wie er sich das wünschte: „Ich hatte das starke Bedürfnis, mich zu verwurzeln, mich irgendwo einzupflanzen und zu gedeihen. So ein Eremitentum ist mir schon eigen.“

Die Hälfte seiner Zeit arbeitet der inzwischen 50-jährige als Theater- und Musiktherapeut in jugendpsychiatrischen Einrichtungen (er hat dazu noch ein musiktherapeutische Ausbildung absolviert). Die zweite Hälfte zieht er mit Lesungen und Kleinkunst übers Land. Wenn man so will: die dritte Hälfte besteht aus gelegentlichem Stückeschreiben, Theaterspielen und Inszenieren (er führte dreimal Regie in Bauerbach). Und die vierte und augenblicklich wichtigste Hälfte betrifft die Fürsorge für sein sieben Monate altes Söhnchen Jaron, das bei der Mutter lebt, die im fernen Siegen arbeitet. Unter diesen Bedingungen hat das Gleimershäuser Verwurzelungsbedürfnis keine große Chance. Kein Wunder also, dass ihm in diesem Zusammenhang „Ecce Homo“ in den Sinn kommt, die Meininger Inszenierung des polnischen Regisseurs Janusz Wisniewski von 1999: „Von dieser Inszenierung zehre ich immer noch. Die hat auch heute noch viel mit mir zu tun, dieses Zurückgenommene, dieses Unfertige, dieses Fragmentarische, diese Sprache, die sich erst noch finden muss. Dieser ständige Versuch, etwas zu werden, was man noch nicht ist. - Die Arbeit mit Wisniewski war großartig!“

Vergleicht man das „Unfertige“ eines freischaffenden Künstlerlebens mit dem „Fertigen“ der festangestellten Jahre am Meininger Theater, dann könnte man – wie Stefan Schael das manchmal tut – schon leicht sentimental werden. Seine Meininger Ära von 1992 bis 2003 war die erfüllteste, ja ganzheitlichste Zeit seiner Karriere. Und wie er augenzwinkernd anfügt: „Das war meine Karriere.“ Der Eindruck vom Meininger Theater als Ort der Geborgenheit hatte viel mit dem Gefühl des gerade mal 27-jährigen Schauspielers zu tun, aufgenommen worden zu sein, als er 1992 in Meiningen sein erstes richtiges Engagement antrat: „Ich hab das alles als angenehm familiär erlebt.“ Außerdem konnte er seinen leicht besorgten Eltern damals, dank der genialischen Schachzüge des Intendanten, gleich mitteilen: „Mama, Papa, ich bin am Staatstheater!“ Als Pionier des Meininger Theaterwunders fühlte er sich nicht. „Ich war mehr mit mir beschäftigt, wollte mich in den Beruf reinfinden und das Beziehungsleben erproben.“ Ulrich Burkhardt war für ihn eine geachtete Autorität in Hemdsärmeln.

Der Chef empfing ihn anfangs nicht gleich mit offenen Armen, erkannte jedoch bald, wo die ganz besonderen Talente des jugendlichen Helden lagen. Sicherlich nicht in der Wahnsinnsrolle eines viel zu jungen Othello, in die ihn Schauspieldirektor Albert R. Pasch 1994 steckte, und von der Schael heute sagt, sie sei zu groß für ihn gewesen. Emotional aufgewühlt hat ihn kurze Zeit später die Rolle des schwulen Molina in „Der Kuss der Spinnenfrau“. Tief berührt haben ihn die Ecce-Homo-Inszenierung und ein paar Jahre zuvor die kluge, freundliche Art, mit der der alte Fritz Bennewitz in seiner „Wallenstein“-Inszenierung die Fähigkeiten der Schauspieler hervorkitzelte.

Wie alle anderen, die Ulrich Burkhardt kannten, war auch Stefan Schael schockiert vom Tod des Intendanten. Drei Jahre vorher hatte er allen Ernstes vor, ihm ans Wiesbadener Staatstheater zu folgen. Doch Burkhardt verweigerte sich im letzten Augenblick dem bürokratischen Ansinnen der Wiesbadener Theaterverwaltung und blieb zur Freude aller Beteiligten in Meiningen. Und mit ihm Stefan Schael. Der mauserte sich in den Folgejahren zum Publikumsliebling und blühte in den Rollen auf, die seinen Talenten am meisten entsprachen. Nach den ersten Erfolgen in der musikalischen Revue „Liebesperlen“ kam der Durchbruch mit „Elvis“. Stefan Schael heute:

„Die Premiere werde ich nicht vergessen. Am Ende standen die Leute plötzlich alle auf. Und die haben mich gemeint! Boaah! Erst einmal war ich total verblüfft. ‚Meinen die wirklich mich?‘ Ich hab’s anfangs nicht annehmen können, aber irgendwann drang es doch durch. Wenn ich nach einer Elvis-Vorstellung nach Hause kam und mich geduscht hatte, fiel ich erst einmal in ein Loch, ja in absolute Einsamkeit und Trauer. Aber am nächsten Tag konnte ich händeschüttelnd durch die Stadt laufen. - Nach der vierten oder fünften Aufführung hat’s mich dann aus den Schuhen gehoben. Ich bin bei den Zugaben vor Erschöpfung umgefallen. Nachmittags hatte ich ja noch die Klärgrube an meinem Häuschen ausgehoben und abends stand ich auf der Bühne. Ich war danach körperlich einfach so platt, dass ich gerade noch die Nullgasse erreichte, wo ich in die Arme meines Kollegen Wolfgang Böhm fiel. Burkhardt kam dazu und hat mir den Kopf gehalten - ein Theaterchef, der sich darum sorgt, dass es seinen Leute gutgeht! Ich hab ihn als sehr fürsorglich erlebt.“

Seit langem muss Stefan Schael sein eigener Theaterchef sein. Selbst, wenn er damals immer wieder Zweifel hegte, ob der Weg für ihn der richtige ist: Heute kennt er Freud und Leid eines freischaffenden, selbstorganisierten und selbstvermarkteten Lebens und weiß, dass beides nebeneinander und gleichzeitig existiert und dass er versuchen muss, vier oder fünf Hälften so zu zerstückeln, dass aus ihnen tragbare Viertel oder Fünftel werden. Vielleicht muss er das eine oder andere Teilchen auch einfach zur Seite legen, um mit den anderen schadlos jonglieren zu können. Das Theater reizt ihn immer noch, aber die Prioritäten liegen verständlicherweise im Augenblick woanders. Deshalb kommt es ihm ganz gelegen, dass er in Hebbels „Die Nibelungen“ zwar erstmals seit Jahren wieder auf der Meininger Bühne steht, seine beiden Charaktere jedoch ohne große Umschweife alsbald das Zeitliche segnen müssen.

Die Theaterklamotten von 1996 passen ihm jedenfalls noch und seine Stimme klingt kräftig und getragen von den Erfahrungen der Jahre. Als er bei der Feier der Theater-Freunde inbrünstig den Spiritual „Sometimes I Feel Like A Motherless Child“ intoniert, da überfällt selbst die ältergewordenen Girlies ein wohlbekanntes Zittern und die in Ehren ergrauten Herren erbleichen, als seien sie noch die Knaben von damals.