Zum Tod von Hans Müller-Deck Das Erbe des Judo-Senseis aus Lauscha lebt fort

Ilga Gäbler
Hans Müller-Deck (Mitte) in Aktion: So wird der Träger des 9. Dan den Judokas in Erinnerung bleiben. Das Foto entstand bei einem der Workshops, zu denen der Judoclub Kogatan Bad Salzungen den „Judoprofessor“ begrüßen konnte. Foto: Verein Kogatan Bad Salzungen

Die Judo-Szene trauert um Hans Müller-Deck. Der Thüringer hat sich als Athlet, Trainer und Sportwissenschaftler um die Kampfsportart verdient gemacht.

 
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Lauscha/Röcken - Das Herz einer Legende des Judosports hat aufgehört zu schlagen. Hans Müller-Deck ist im Alter von 84 Jahren gestorben. Der gebürtige Lauschaer hat in der Judo-Welt einen klangvollen Namen. Er war Leistungssportler, Trainer, Funktionär und vor allem ein anerkannter promovierter Sportwissenschaftler. Auch die Südthüringer Judoka trauern um ihren „Sensei“.

Wenn diese japanische Bezeichnung für „Lehrer“ oder „Vorbild“ auf einen deutschsprachigen Judoka zutrifft, dann auf Hans Müller-Deck. Ob in der DDR, im vereinten Deutschland oder in Österreich – unzählige Vertreter der sanften Kampfkunst profitierten von seinem Können und seinen Erfahrungen. Über Jahrzehnte hinweg entwickelte der „Judoprofessor“ wissenschaftliche Trainingsprinzipien für den Kampfsport. Seine theoretischen und sportpraktischen Kenntnisse waren fundamentales Rüstzeug für viele deutsche Weltklasse-Judokas, Olympiamedaillengewinner, Welt- und Europameister. Von Müller-Deck lohnte es sich zu lernen. Er war einer der neun Träger des 9. Dan in Deutschland. Dieser seltene Meistergrad wurde ihm auf Anregung des Österreichischen Judo-Verbandes (ÖJV) verliehen.

Hans Müller-Deck schrieb seine Judo-Theorien nieder, verfasste Lehrbücher, sportwissenschaftliche Publikationen sowie Übersetzungen aus dem Englischen, Russischen und Japanischen. Sie gehören zu den Standardwerken vieler Trainer und Judokas. Selbst im Bücherschrank von Lauschas Bürgermeister Norbert Zitzmann, von Haus aus kein Kampfsportler, steht Müller-Decks „Der Weg zum Top-Judoka“. Zitzmann sagt: „Wir werden das Andenken an Hans bewahren. Denn wir sind stolz darauf, dass mit ihm und mit Skisprung-Bundestrainer Reinhard Heß zwei namhafte Trainer-Koryphäen aus unserer Stadt stammen.“

Wie wurde der „Decken-Hansel“, so nennen ihn die Lauschaer liebevoll, selbst zum Top-Judoka? Schließlich sprangen Jungs aus dem Thüringer Wald traditionell von der Schanze oder standen auf Langlaufskiern, auf der Matte kämpften sie nicht. Zudem steckte Judo hierzulande nach dem Krieg noch in den Kinderschuhen.

Als Hans Müller-Deck am 23. Oktober 1936 in der Glasbläserstadt das Licht der Welt erblickte, wurde ihm die Judo-Leidenschaft wahrlich nicht in die Wiege gelegt. Schon früh musste der Junge aus der Oberlandstraße seinen Mann stehen und der Mutter helfen. Sie war alleinstehend und betrieb eine Gastwirtschaft. Später wurde daraus eine Jugendherberge. Nun ist das Haus abgerissen. Aber noch immer schmunzeln die älteren Lauschaer, wenn die Sprache auf Müller-Decks „Flaschenbierhandel“ mit den russischen Soldaten kommt. Dann heißt es: Er war schon immer Hans Dampf in allen Gassen. Nach dem Abitur sagte er Thüringen Adieu und ging zum Studium nach Leipzig.

Fritz Böhm erinnert sich an die gemeinsame Schulzeit in Lauscha: „Wir waren Freunde. Er saß hinter mir. Hans war ein guter Schüler, ehrgeizig und mutig.“ Für den Sport begeisterten sich beide. Bäckerssohn Fritz war Turner. Ein sehr erfolgreicher. Da es in Lauscha keine Turnhalle gab, trainierte er beim Sportclub Motor Jena. Er war Mitglied der DDR-Nationalmannschaft und erkämpfte sich 1958 den DDR-Meister-Titel im Zwölfkampf, am Barren und auf dem Pferd. 1960 winkte ihm die Teilnahme an den Olympischen Sommerspielen in Rom. Eine Verletzung verhinderte seinen Einsatz. Fritz Böhm begann ein Diplomsportlehrer-Studium an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig. Nach dem Abschluss startete er als Trainer und Lehrer an der Kinder- und Jugendsportschule in Bad Blankenburg ins Berufsleben. Und unterrichtete an der EOS in Neuhaus.

An der DHfK sahen sich Fritz und Hans wieder. Hans hatte sein Sportlehrer-Diplom bereits in der Tasche. „Dass er als Spezialfach Judo gewählt hatte, überraschte mich“, erzählt Fritz Böhm. Sein Freund konnte sogar schon auf erste sportliche Erfolge verweisen: Er war 1960 DDR-Meister im Halbschwergewicht geworden und gehörte zur Nationalauswahl bei den Judo-Europameisterschaften in Amsterdam. Miteinander verbunden blieben die Schulfreunde bis ins hohe Alter. Sie begegneten sich zu Klassentreffen oder zu anderen Ereignissen in Lauscha.

Mittlerweile war Müller-Deck Judo-Trainer an der DHfK, Nachwuchstrainer im Judo-Verband und Mitglied der Dan-Prüfungskommission. Schließlich schlug er eine sportwissenschaftliche Karriere ein. Der Nachruf des Deutschen Judo-Bundes skizziert die einzelnen Stationen. 1972 promovierte Hans Müller-Deck an der DHfK und habilitierte später. Als Hochschuldozent am Forschungsinstitut für Kampfsport in Leipzig galt sein besonderes Interesse der Theorie und Methodik des Trainings. Er leitete das Wissenschaftliche Zentrum und war Vizepräsident Leistungssport des Deutschen Judo-Verbandes (DJV).

Einer der allerersten Studenten, die er als Judo-Trainer im neu gegründeten DHfK-Sportclub betreute, war Burkhardt Daßler, der in Chemnitz lebt. Drei Mal in Folge holte Daßler den DDR-Meistertitel. Und wie fast alle, denen der „Sensei“ einmal das Judo-Gen einpflanzte, blieb auch Burkhardt Daßler sein Leben lang dem Kampfsport treu. Als Diplomsportlehrer und Trainer hob er an der heutigen Technischen Universität in Ilmenau den ersten Judoverein aus der Taufe. Mit seinen 81 Jahren ist er derzeit einer der ältesten Wettkampf-Judoka Deutschlands und kann sich mit drei Weltmeistertiteln im Veteranen-Judo schmücken.

Ein anderer Müller-Deck-Schützling ist Karl-Heinz Deblitz. Der72-jährige Leipziger Diplomsportlehrer fungierte viele Jahre als Judo-Coach beim Sportclub Leipzig und war ein engagierter Bundesstützpunkttrainer. „Kalle“ Deblitz formte das große Judo-Talent Udo Quellmalz mit. Als Doppel-Weltmeister und Olympiasieger ist Quellmalz wohl der erfolgreichste deutsche Judosportler überhaupt.

„Es war Hans Müller-Deck, der meinen beruflichen Werdegang bestimmte“, erzählt Deblitz. In den 1960er-Jahren qualifizierte sich Deblitz für die Jugend-Europameisterschaften im Judo. Doch am Ende durfte das junge DDR-Team im französischen Lyon nicht starten. Müller-Deck holte den Magdeburger nach Leipzig zum Sportclub. Der wurde DDR-Meister, studierte Sport und avancierte zum Trainer. „Was Müller-Deck an wissenschaftlicher Trainingsmethodik entwickelt hat, war und ist Weltniveau“, konstatiert Deblitz.

Doch in den Jahren der politischen Wende galt der Judo-Prophet erst einmal im eigenen Land kaum noch etwas. Der Österreichische Judoverband (ÖJV) aber schätzte „sein Fachwissen, seine Begeisterung für den Judosport und die Fähigkeit, neue Systeme aufzubauen“ umso mehr. Er heuerte ihn 1991 als Sportkoordinator an. Judo-Austria-Präsident Martin Poiger würdigt den Verstorbenen in einem Nachruf: „Dr. Hans Müller-Deck hatte viele Jahre entscheidenden Einfluss auf die positiven Entwicklungen in unserem Verband.“

Markus Moser, derzeitiger ÖJV-Sportdirektor, unterstreicht das: „Er hat bei uns einen Rahmentrainingsplan eingeführt, der noch immer als Basis für unsere Nationalkader dient. Müller-Decks analytische Herangehensweise gepaart mit einem unglaublichen Judo-Fachwissen hat mich immer sehr fasziniert.“

Nach seiner Pensionierung im Jahr 2000 kehrte Hans Müller-Deck in seine Heimat zurück. Zu Hause war er in Röcken. Bekannt geworden ist der 170-Seelen-Ort in Sachsen-Anhalt durch Friedrich Nietzsche. Der Philosoph und Philologe wurde dort geboren und beigesetzt. Hans Müller-Deck, offen für viele Dinge, die das Leben bereichern, engagierte sich in der Nietzsche-Gedenkstätte. Und der Zufall wollte es, dass Nietzsche die beiden Lauschaer Hans Müller-Deck und Norbert Zitzmann nochmals zusammenführte. Zitzmann sitzt im Vorstand der Nietzsche-Gesellschaft.

Die ganz große Passion allerdings blieb für den (Un-)Ruheständler sein Judo. Immer wieder zog es ihn an die Basis. Dabei lag ihm der Nachwuchs besonders am Herzen. Er war ein hochgeschätzter Gast in den 14 Judo-Vereinen mit ihren 550 Mitgliedern zwischen Sonneberg und Bad Salzungen. Hartmut Franz aus Mengersgereuth-Hämmern – Chef der Südthüringer Kreisunion, Judo-Urgestein und Träger des 6. Dan – schätzte das an ihm. Beide Sportsmänner kannten sich von früheren Begegnungen. Gemeinsam mit Klaus Blechschmidt brachte Hartmut Franz seinerzeit beim SV Dynamo in Sonneberg Detlef Ultsch das Einmaleins des Judos bei. Heute ist Ultsch als zweimaliger Weltmeister, Olympiadritter, Ex-Bundes- und Nationaltrainer der Männer selbst eine Legende. Hartmut Franz schaut zurück: „Wir arbeiteten damals im Nachwuchsleistungsbereich nach einer Broschüre von Hans Müller-Deck, die nichts von ihrer Gültigkeit verloren hat.“

Auch im Alter verstand es der „Judoprofessor“ wie kein Zweiter, Kinder und Jugendliche für seinen Sport zu begeistern. Ruckzuck streifte er dabei die Judogi über und stand selbst auf der Tatami. Der Bad Salzunger Judoclub Kogatan lud ihn mehrfach zu Workshops ein. Vereinsvorsitzender Hans-Ulrich Gäbler wusste um die Fähigkeit des „Senseis“, junge Leute immer wieder aufs Neue für den Kampfsport zu motivieren. Schließlich war Hans Müller-Deck sein Trainer beim SC DHfK Leipzig gewesen. Gäbler – 1966 DDR-Meister – hatte sich wie sein damaliger Trainingspartner Karl-Heinz Deblitz für die Jugend-Europameisterschaften in Lyon qualifiziert. Dass sie nicht fahren durften, entschieden Politiker und der Kalte Krieg, der auch um den Sport keinen Bogen machte. Für die Athleten zerplatzten Judo-Träume. Gäbler, der Senioren-Vize-Weltmeister ist, hielt stets den Kontakt zu seinem Trainer. Er sagt: „Hans Müller-Deck verdanke ich meine Wettkampferfolge, meine Liebe zu diesem Kampfsport und den Willen, in allen Lebensbereichen zielstrebig zu bleiben.“

Er ist sich sicher, dass die Trainingsstunden mit dem Vorbild-Judoka dazu beitrugen, dass viele Kogatan-Vereinsmitglieder bislang bedeutende Wettkampferfolge erzielen konnten. Hannes Trier zum Beispiel wurde deutscher Meister und Vizemeister. Dafür danken die Athleten Hans Müller-Deck.

Wenn er jetzt in seinem Wohnort Röcken die letzte Ruhe findet, so lebt doch das Erbe des „Senseis“ fort.

Der 9. Dan

In Deutschland wurden bisher neun Judoka mit dem 9. Dan geehrt. Vier seien bereits verstorben, teilt Lino Herrmanns vom Deutschen Judo-Bund (DJB) mit. Die Mitgliederversammlung des DJB beschließt diese Ehrung. Gewürdigt werden damit herausragende Verdienste um den Judosport in Deutschland. Es ist die höchste Graduierung, die national vergeben werden kann. International gibt es noch eine Ehrung mit dem 10. Dan.

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