Winter im Thüringer Wald Die Sehnsucht nach Schnee

Es ist der zweite Winter im Thüringer Wald, den ich nur aus der Ferne erlebe. Blödes Corona, blödes Homeoffice. Da hilft nur eins: In Erinnerungen schwelgen. Denn Tage im Thüringer Schnee hinterlassen Spuren.

 
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Morgens um halb acht ist es hier oben am schönsten. Natürlich zeigt mir die Schönheit auf dem Kamm des Thüringer Waldes manchmal auch ihre eiskalte Fratze. Wenn die Wolken wieder einmal tief fliegen und der Wind Schnee über den Grenzadler bei Oberhof peitscht. Dann kostet es echte Überwindung, aus dem Auto zu steigen. Heute wäre nicht so ein Tag gewesen. Heute hätte ich mich nicht überwinden müssen. Doch den traumhaften Sonnenaufgang im verschneiten Thüringer Wald sehe ich nur über die Webcam. Ich sitze im Homeoffice im fernen Berlin. Seit gut zehn Jahren bin ich im Herzen zwar weiterhin Vollblut-Thüringer, doch verbringe die Hälfte der Zeit bei meiner Familie in Berlin. Durch Corona bin ich seit Wochen nicht mehr in Suhl gewesen. An Tagen wie heute schmerzt das besonders. Blödes Virus. Vor ein paar Wochen noch wollte ich noch ungern nach Thüringen, als dort die Inzidenzen so hoch waren. Nun will ich die Kollegen nicht mit meiner Anwesenheit belasten. Jetzt, wo doch Berlin die bundesweite Corona-Statistik mit anführt.

Wenn ich aber im Thüringer Wald bin, dann ist halb acht meine Zeit, um die Skier anzuschnallen. Dann, wenn auf dem Parkplatz am Grenzadler nur ein paar wenige Autos stehen. Wenn die Touristen in Nicht-Corona-Zeiten sich noch einmal in ihren Betten umdrehen.

Dann mache ich es vom Wetter abhängig, für welche Runde ich mich entscheide. Meistens wird es die zum Wachsenrasen. Ich bin so ein Langläufer, der immer wieder gerne bekannte Strecken läuft. Andere wollen ja täglich was neues erleben. Doch auch auf den bekannten Strecken gibt es immer wieder viel zu entdecken. In den vergangenen Jahren natürlich vor allem die Veränderungen des Waldes. Stürme und trockene Sommer haben ihre Spuren hinterlassen. Doch unter einen Kleid aus Schnee kann der Wald sie noch ganz gut verstecken.

Meistens steige ich oben in meine Runde ein, laufe über den Rennsteig zum Wachsenrasen und dann durch Tal, über die Alte Tambacher Straße zurück. Ich weiß, offiziell ist die Abfahrt vom Wachsenrasen runter ins Tal in diese Richtung nicht freigegeben und bitte hiermit offiziell beim Fahrer der Spurgeräte um Entschuldigung. Aber meistens gelingt es mir ganz gut, die Spur zu schonen. Doch in diese Richtung finde ich die Runde einfach schöner. Und ganz ehrlich: Der Anstieg von der Alten Tambacher Straße hinauf zum Wachsenrasen ist mir einfach zu lang.

Das Schöne an der Runde: Sie ist abwechslungsreich. An vielen Stellen kann ich mich entscheiden, doch noch einen anderen Weg einzuschlagen. Einen Abstecher zum Aussichtspunkt Hohe Möst vielleicht? Selbst bis dorthin legen die fleißigen Helfer bei guten Schneebedingungen Spuren und eröffnen so den Wintersportlern auch zu dieser Jahreszeit den spektakulären Ausblick. Oder, statt nach rechts zur Hohen Möst abzubiegen, doch lieber links und den Weg in Richtungs Kanzlersgrund einschlagen? Gerade an Tagen wie heute würde sich diese Variante am frühen Morgen lohnen, denn der Sonnenaufgang über den Schanzen ist einfach spektakulär. Noch heute habe ich ein Foto als Startbildschirm auf meinem Handy, auf dem die Sonne sich langsam durch die Bäume oberhalb des Kanzlersgrunds kämpft. Es ist mittlerweile bestimmt vier Jahre alt.

Dass die Winter im Thüringer Wald und ich einmal eine große Liebe werden würden, das stand übrigens lange auf der Kippe. Vor 22 Jahren hatte ich mich tatsächlich für den Thüringer Wald entschieden, weil ich gehofft hatte, im Winter Langlaufen zu können. Mit sechs oder sieben Jahren stand ich zum ersten Mal auf den Brettern. Zuhause, auf den Golfwiesen oberhalb von Kassel. Ja, dort läuft man wirklich auf einem Golfplatz Ski. Doch schneereiche Winter dort sind wirklich nur noch eine Kindheitserinnerung.

Schönheit im Geheimen

Um so größer war meine Enttäuschung dann im ersten Winter in Suhl. Bei grauer Suppe fuhr ich hoch nach Oberhof. Aufs Geratewohl steuerte ich den erstbesten Parkplatz an. Dort kam zwar ein Mann auf mich zu, der Parkgebühren von mir kassierte, doch auf meine Frage, wo es denn zur Loipe gehe, zuckte er nur mit den Schultern. In mir kam damals das Gefühl auf, dass die Südthüringer es mit ihren schönen Wintersport-Plätzen genau so handhaben wie mit ihren Pilzsammelplätzen im Wald: Sie behalten sie für sich, damit ihnen niemand etwas wegnimmt.

Doch mit den Jahren wurde es besser. Viel besser. Heute kann ich täglich den Zustand quasi aller Loipen der Region im Internet oder der App des Regionalverbundes Thüringer Wald abrufen. Finde auf dessen Internetseite Wegbeschreibungen, Parkplätze und Höhenprofile. Und natürlich habe ich in den vergangenen 22 Jahren auf eigene Faust viel entdeckt. Privat und dienstlich. Unvergessen ist eine Tour mit Jens Rauh eines frühen Morgens in Masserberg. Er ist so etwas wie ein Loipen-Urgestein des Thüringer Waldes. Seit Jahren schon präpariert er die Loipen und Skihänge rund um seinen Heimatort. Durch ihn weiß ich, wie viel Arbeit dahinter steckt, dass Urlauber und Einheimische jeden Tag tolle Bedingungen vorfinden. Durch ihn habe ich gelernt, dass die Mitarbeiter auf den Spurgeräten alles geben, um aus dem Schnee das Beste herauszuholen. Bei wenig Schnee und schlechten Wetterverhältnissen können sie natürlich auch nicht zaubern. Seit diesem Morgen mit Jens Rauh habe ich auch immer etwas Geld in der Tasche, wenn ich auf die Ski steige. Und wenn ich am Wegesrand eine Spendenbox sehe, an der Skiläufer darum gebeten werden, doch ein paar Euro für den Diesel der Pistenraupe beizusteuern, dann werfe ich ein paar Münzen rein. Denn eigentlich müsste man an schönen Wintertagen Eintritt nehmen für den Thüringer Wald. Doch bei aktuell rund 800 Kilometer präparierten Loipen und Skiwanderwegen ist das schwer möglich.

Nach anderthalb Stunden bin ich dann meistens zurück am Grenzadler. Wenn die Pandemie es gerade zulässt, dann wartet dort der pure Luxus auf mich: Für 50 Cent gibt es eine heiße Dusche und einen warmen Umkleideraum im Rennsteighaus. Wer kann so schon einen Arbeitstag starten? Ein früher Morgen im Thüringer Wald kann eben Spuren hinterlassen. Und manchmal zehrt man Jahre davon.

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