Thüringer helfen "Wir waren so glücklich" - dann kam die Flut

Von Klaus-Ulrich Hubert

Die eigenen vier Wände bauen: "Da wird man nie ganz fertig", wusste Ingo Krautwurm schon immer. Dann schoss das Jahrhundert-Hochwasser ins fast fertige Heim, begrub Fleiß und Geld unter den Fluten. Ein Schicksal aus Caaschwitz.

 
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Caaschwitz - Wieso das kleine Flüsschen hundert Meter östlich seine Drei-Seiten-Bauernhofes in der Elsterstraße 5 ausgerechnet Weiße Elster heißt? Das erschließt sich Ingo Krautwurm kaum noch. Vor sechs Jahren hatte er das idyllische Grundstück mit Nebengelass und Gartenland günstig gekauft, samt altem, maroden Wohnhaus. Beim Blick auf das Luftbild des überfluteten Caaschwitz sehen er und seine Frau Kathrin ihr außen noch unverputztes Haus in Rufweite zu jenem Kindergarten, dem bereits Hilfe aus Südthüringen zuteil wurde. Eingeschlossen in einer braunen Brühe.

"Alte Caaschwitzer erinnern sich, dass es 1954 schon mal fast so schlimm wie jetzt kam", sagt Kathrin. Sie bereitet für Ingo und Tochter Laura zwischen den Fragmenten der vom Flutwasser zerquollenen, teils eilig demontierten Küchenmöbel gerade Mittagessen. Und bittet zu Tisch zwischen Gebläseleitungen, aufgestapeltem Hausrat inmitten von Trocknungsgeräten, deren Schläuche in den versotteten Fußboden reichen. "Zum Glück liegt dort Beton-Estrich, sonst müsste alles samt Fliesen raus!" Ingo hofft, das bleibe ihm so erspart.

Nur noch dezent müffelt der Elsterschlamm-Duft durch die feuchte Luft, während die stromfressenden Aggregate ihr teures Lied summen. Bis Spätsommer müssen die Trockner wohl noch laufen. Rund 100 Kilowattstunden Strom fressen sie - täglich.

Panische Angst in der Nacht

Sohn Jonas (14) kommt heute mit dem Schulbus vom Gymnasium aus Gera etwas später. Und die Tochter ist auch schon wieder auf dem Sprung: "Meine Theatertruppe wartet doch, Mutti", sagt Laura im Gehen, ruft aber auf dem Familien-PC im Obergeschoss noch schnell die Fotos von den schlimmsten Stunden Anfang Juni auf den Bildschirm. Daneben liegt eine Broschüre voller Wunschträume für die nächsten Monate - für ihre Zeit vor einem "möglichst sozial ausgerichteten Studiengang". Das Au-pair-Handbuch 2013 lockt zum Welt-Kennenlernen, zur Nutzung ihrer Fremdsprachenkenntnisse... Ihr Abitur hat Laura jüngst bestanden. Mit einer Einser-Note.

Fast schon wieder so etwas wie Alltag. Fast schon wieder normales Leben, das hier zu Wochenbeginn in dem schlicht und geschmackvoll mit viel Holz erbauten Haus der Krautwurms einzieht, seit Bürgermeister Dieter Dröse die "Sturmglocken läutete". Ingo: "Was für ein rühriger Mann, dem mit der Flut daheim selbst das Wasser bis zum Halse stand und der sich trotzdem erst mal voll um den Ort, die Bürger, die Helfer gekümmert hatte. Bis zum Umfallen! Bis wir letztlich doch dem Wasser unterlagen. Es verhieß ja nichts Gutes, als der Bürgermeister die Sirenen mit dem speziell ausgedachten Hochwasser-Alarmzeichen heulen ließ."

"Ihr müsst wohl nun doch schnell hier raus", habe Dröse dann gesagt. "Derweil versuchten wir mit vielen, vielen uneigennützigen Helfern etliches in den ersten Stock zu schleppen. Was wir nicht mehr hoch bekamen, stellten wir auf Plastikkisten, hofften, das Wasser würde nicht höher reichen." Ingo wischt sich - wie auch seine Frau - verlegen Tränen weg, als habe er nur Staub im Auge: "Aber dann kam die braune Brühe schon immer stärker. Nicht von der Elster, sondern von gegenüber, aus den anderen Grundstücken. Aus unerwarteter Richtung!" Ingo zeigt, wie er in die Plastikkisten Löcher bohrte, als die im gurgelnden Flutwasser Auftrieb bekamen ... und dann doch mit den hohen schweren Schrank-Aufbauten kenterten.

Kathrin erinnert sich an das panische Grübeln, was wohl in der Eile noch alles vor der Flut mit "auf die Arche Noah im Obergeschoss" zu retten sei. "Die Türen, die Türen aushängen!" ruft sie da noch in den Möbelpacker-Stau treppaufwärts. Nach sicherheitshalber abgeschaltetem Strom läuft ein Notaggregat. Es sorgt für Licht, speist die Pumpen. Doch wohin mit deren Wasser, wenn dies inzwischen ringsum steht, immer wieder nachläuft, nur noch eine Ziegelsteinhöhe bis zum Eindringen über die Fensterbänke fehlte?

Durchnässt und erschöpft versucht man sich zwischen all den wüsten Einrichtungsstapeln im Bett etwas aufzuwärmen. "Um dann einfach die Augen wieder aufmachen zu können und alles nur als bösen Alptraum abtun zu können", sagt Kathrin. "Und zu hoffen, dass all die Mühen des Hausbaus nicht umsonst waren: "Wir hatten vergeblich versucht, das alte Bauernhaus in der Elsterstraße zu sanieren. Dann der kräftezehrende Abriss vor vier Jahren. 2010 das Grundplatte-Gießen und der Rohbau. Und 2011 das Dach, auf einer Seite sogar mit den alten Ziegeln. Und immer mit Verwandten, Nachbarn, Handwerkern und eigenen Muskelhypotheken der Familie, vor allem denen von Ingo!"

Für die Mutter aufgeopfert

Stolz erzählt Kathrin, was dabei auch ihre Kinder neben der Schule alles so meisterten. Oft fragten Nachbarn angesichts jeder freien Minute auf dem Bau: "Also, woher ihr nur die Kraft nehmt?"

Ingo arbeitet in der Fleischerei des Vaters im nahen Bad Köstritz, Kathrin gab ihren Beruf als Erzieherin auf, um ihrer pflegebedürftigen Mutter beizustehen. 17 Jahre lang wohnte das Ehepaar mit in Ingos Elternhaus. Nun sollte es was Eigenes sein, die Kinder schon fast erwachsen mit wachsenden Ansprüchen; beide Eheleute jenseits der 45. Bei viel, viel Eigenleistung, gezügelten Ansprüchen "und dabei alles solide auf Kante genäht" fanden die Krautwurms nach langem Suchen auch endlich einen 100 000-Euro-Kreditgeber für die Baufinanzierung. Und konnten schließlich ab November 2012 nach dem Einzug das erste Weihnachten in den eigenen vier Wänden feiern.

"Wir waren so glücklich", sagt Kathrin heute. "Weil das so wertvoll ist: Ein Dach überm Kopf, sauberes Wasser, Arbeit, genug zu Essen, Gesundheit, Kinder in guter Schule und unsere grüne Garten-Oase hinterm Haus ..." Eigentlich sei all dies schon viel mehr Glück, als die meisten Menschen sich auf der Welt zu wünschen wagen, sagt Kathrin. Und erinnert sich der Grauens-Bilder aus Haiti. "Nach dem Erdbeben dort saßen wir alle auf der Treppe, umarmten uns, versuchten das Leid der Menschen dort zu erahnen, spendeten für die Elenden dort ..."

... und dann noch Krebs

Zunehmende, klimabedingte Naturgewalten - wenn auch nicht mit dem apokalyptischen Erdbeben in Haiti 2011 vergleichbar - sind ein Risiko, das Versicherungen immer mehr scheuen. "Soll man unseren kleinen 650-Einwohner-Ort veröden lassen, nur weil wir hier in Hochwasser-Gefährdungsstufe 4 sind?" Ingo hatte keine Gebäudeversicherung gefunden, die außer bei Blitz, Hagel und Sturm auch bei Hochwasser einspränge. All dies ließ ihm keine Ruhe in den Schreckensstunden vom 2. zum 3. Juni, als er schließlich doch dem Drängen der Bundeswehr-Leute nachgab, sich aus der Drecksbrühe heraus mit dem Schlauchboot in höhere Gefilde evakuieren zu lassen. "Vor allem wegen meiner OP-Wunde", sagt er.

Ingo Kratwurm verständigt sich dabei stumm mit Blicken zu seiner Frau, ob das nicht gerade eben zu weit führt: Dieses zweite Unglück im Glück der Familie einer Zeitung preiszugeben. Aber Kathrin nickt vertrauensvoll, wischt wieder unauffällig mit der rechten Hand Tränen weg: "Du musst gleich deinen Onkologen wegen des Medikamenten-Verträglichkeitstests anrufen!"

Seit März weiß Ingo, dass er mit der Hausbauerei mindestens einen Gang zurück schalten muss. Die OP-Wunde an seinem Bauch, die er vor dem Bakterien- und Schadstoffmix der braunen Fluten per Boot in Sicherheit brachte, ist ein künstlicher Darm-Ausgang. Krebs mit 48.

"Jetzt, wo es wieder ruhiger wurde", sagt Kathrin, "da kam noch eine Katastrophe. Die Flut. Verzweiflung ... Nur das nicht noch!"

"Freies Wort hilft" unterstützt Familie Krautwurm aus Caaschwitz beim Wiederaufbau ihres Hauses mit einem Zuschuss von zunächst 7500 Euro. Je nach Ausmaß der Schäden und Zusatzkosten sowie der anderweitigen Hilfe stocken wir den Betrag noch weiter auf.

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