Thüringer helfen "Mama, ich will nicht in den Himmel"

Von Klaus-Ulrich Hubert

Krebs: Fast die Hälfte der Deutschen bekommt ihn irgendwann, die meisten im Seniorenalter. Der kleine Jannik aus Wernshausen, er starb mit vier. Mutter Tanja ist trotz tiefer Trauer um den toten Sohn stark geblieben.

 
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Tapfer erinnert sich Tanja Kohlschreiber in Wernshausen an den Schock, als sie die Krebsdiagnose ihres Jannik erfuhr: "Vor über zwei Jahren nach seinem zweiten Geburtstag. Dicker Bauch. In dem Alter angeblich normal, hatte mir die Ärztin vorher immer gesagt.

Aber: Später wuchs an der Stelle "eine Beule vom Rückgrat her nach vorn heraus". Tanja braucht noch viel Fassung, während sie sich erinnert: "Ein Nerventumor, ein Neuroblastom. Als man das mit vielen Metastasen überall in seinem kleinen Körper erkannte und sogleich entfernte, war es schon so groß wie eine Milchtüte", erzählt die 23-Jährige heute. 20 Prozent Überlebenschancen gaben damals die Spezialisten in der Uni-Klinik Jena.

An dieser Zahl klammerte sich die junge Mutter um so fester, je mehr sie später rund um die Uhr in Jena und daheim bei der Pflege des Kindes erleben musste, dass die Ärzte wohl eher "höchstens" 20 Prozent Überlebenschancen meinten.

Zwischen den Therapie-Blöcken in Jena war Jannik zeitweise auch wieder daheim, musste meistens freitags zur Kontrolle zur Klinik. Kleiner Hoffnungsschimmer: Irgendwann konnte ihn von daheim sogar der Fahrdienst frühs nach Schmalkalden in den Integrativen Kindergarten bringen. "Deshalb konnte ich im August 2013 eine Bürokauffrau-Ausbildung beginnen", sagt Tanja. Im Breitunger Elektrobetrieb Winfried Weigang. "Ein sehr, sehr rücksichtsvoller Arbeitgeber übrigens."

Nach etwa einem Jahr aber musste Tanja erneut die Prioritäten in ihrem Leben verschieben. Die kurze Kampfpause ihres Sohnes gegen den Krebs endete jäh. "Seine Tumore waren ja nie weg, aber er war in der Zeit stabil. Wir hatten sogar noch die neueste Therapie in einer Kölner Spezialklinik in Anspruch genommen."

Der Krankenwagen wollte sie aber nicht mit fahren lassen. "Weil. .. ich sei doch schließlich hoch schwanger und wer weiß ... unterwegs ... vor Aufregung! Das wollten die im Ernstfall nicht auf sich nehmen." So fuhr sie ihrem eigenen Kind privat von Schmalkalden nach Köln hinterher.

Wieder daheim, so Tanja, wurden Janniks Schmerzen aber dermaßen grauenvoll, dass er sich kaum bewegen konnte. "Ich durfte ihn nicht mal bei der Körperhygiene anfassen- so schlimm!" Tanja rührte sein Morphium-Präparat an, telefonierte mit Jena: "Es ist schlimm, das hilft schon nicht mehr!' Ich sollte stärker dosieren. Und hoffte dann auf einen Rettungswagen für die lange Fahrt zur Jenaer Klinik. Der wurde aber erstmal von der Leitstelle abgelehnt."

Tanja knuddelt, während sie all das erzählt, ihr sieben Monate altes Töchterchen Marlene auf dem Schoß noch fester an sich. Das strahlende Lächeln, die Neugier über den Besuch von der Heimatzeitung weicht im Gesicht des Babys der Unruhe. Und dem Hunger. Gleich ist Mittag. Ihr Töchterchen, das den Besuch so quicklebendig-freundlich anlächelt, hat die 23-Jährige im Februar zur Welt gebracht. Mitten in der schlimmsten Zeit, als Tanja mit ihrem Erstgeborenen zwischen Strahlen- und Chemo-Therapien immer weniger Hoffnungen hatte.

Jetzt, beim Stillen, streichelt Tanja der kleinen Marlene über die Haare: "Wenn ich heute so daran denke, dass ich fast mal einen Moment lag in all dem Elend und den Turbulenzen mit meinem sterbenden Jannik an einen Schwangerschaftsabbruch dachte ..." Man habe ja ohnehin erst in der 16. Woche ihre Schwangerschaft erkannt. "Reizmagen" sei zuvor die Diagnose gewesen", lächelt sie süßsauer.

Tanja Kohlschreiber ist heute für die Ermutigung durch Doris Kister in der DRK-Schwangerschaftsberatung Schmalkalden sehr, sehr dankbar. Vom Kindesvater Janniks kannte die allein erziehende Mutter ja weder Unterhaltszahlung noch Interesse am gemeinsamen schwerstkranken Kind. "Ich könne mich jederzeit an sie wenden, wenn ich Probleme habe, sagte Frau Kister mir beim Gehen. Und heute ist Marlenchen längst mein Ein und Alles. Mein Halt. Mein Trost in der ganzen Traurigkeit um ihr totes Brüderchen. Meinen wackeren und zuvor immer fröhlichen und pflegeleichten Superman. Der liegt nun da oben auf dem Wernshäuser Friedhof."

Tanja musste schweren Herzens ihre Bürokauffrau-Lehre unterbrechen, als Janniks Überlebens-Grenze furchtbar näher kam. "Ich musste einfach neben meinem tapferen Söhnchen sein. Seine Lieblingsspielfigur war immer Superman. Der hatte nun von mir diesen Titel quasi ehrenhalber verliehen bekommen. Weil ich staunend erleben musste, wie der große Kleine gegen sein tödliches Leiden und all seine Schmerzen, sein Wenigerwerden ankämpfte!"

Kurze Erinnerungspause.

Dann taucht hinter Tanjas schamhaft vor ihre Tränen gehaltener linker Hand das Gesicht der jungen Mutter wieder auf. Mühsam aber herzlich und keinesfalls aufgesetzt lächelnd.

Dankbares Erinnern bei Tanja nämlich auch an hilfsbereite Menschen, die solche Schicksale mit ihr teilen. "Der Wahnsinn, wenn Kinder lange, lange vor den Eltern sterben: Die Elterninitiative für krebskranke Kinder Jena war mir große Hilfe. Es gibt so viele Kinder, die sich der Krebs holt, das ahnt man kaum. Danke, danke für die liebevolle Begleitung durch euch. Bis hin zu Janniks Beisetzung, an der sogar die nette Taxifahrerin teilnahm, die uns immer nach Jena brachte!"

Der Neujahrstag 2015 wurde schließlich Tanjas bis dahin schwerster Tag im Leben. "Während sich in meinem Bauch schon deutlich das Marlenchen zu Wort gemeldet hatte, ahnte ich ängstlich bebend: Das wird jetzt Janniks allerletzte Fahrt."

Dass der danach mithören musste, wie ein Mediziner zur Mutter sagte, dass sein Leben nun wohl nur noch Tage, höchstens Wochen währt...

"Mein Jannik und ich wollten dennoch in Jena bleiben, nicht noch ins Kinderhospiz nach Tambach umziehen: Wieder mit neuem Umfeld, neuen Menschen vertraut machen. Meine Hochachtung vor den Leistungen der Klinik in Jena, unserem zweiten Zuhause in der Zeit!"

Auch wenn Jannik nun neben der Mama im Klinikbett aufschreckte, einmal fast wie ein Erwachsener in die nächtliche Ruhe rief: "Vergiss mich nicht, Mama!"

Nichts kann und will sie vergessen.

Nicht, dass sie sich für ihre dicken Tränen entschuldigte, die aus ihren Augen auf sein Gesicht tropften und Jannik darauf sagte: "Ist doch nur Wasser, Mama!"

Nicht, dass Jannik dem "Clown Knuddel" von der Jenaer Elterninitiative bei seinem nächsten Besuch klagte: "Hilfe, Hilfe, ich muss sterben!"

Nicht, dass Tanja zur Antwort bekam, als ihre Sorge wuchs, Jannik könnte nach Einstellung weiterer Bluttransfusionen durch seine verheerenden Werte verbluten: "Müssen wir eben ein rotes statt weißes Bettlaken aufziehen!"

Nicht, dass Tanja letztlich hilflos versuchte, den kleinen Jungen zu trösten, als er aufgeschnappt hatte, dass er wohl bald stirbt. "Mit Ansagen wie ... in den Himmel kommen."

"Aber wie sag ich's denn meinem Kind? Was hätten Sie ihm vor Schreck erzählt, hm? Jannik jedenfalls konterte schon ziemlich kraftlos: "Ich will nicht in den Himmel. Da gibt's überhaupt kein Spielzeug!"

In dieser frühen, fürchterlichen Morgenstunde des 18. März 2015 im Jenaer Universitäts-Klinikum meinte Tanja dann, den Boden unter ihr wegsacken zu spüren. Sie lag neben Jannik, hatte sein Ärmchen gehalten, spürte, wie seine letzte Körper- und Lebenswärme ihn verließ.

"Dass Marlenes Vater und Großmutter den Jungen bald darauf wuschen und für die Überführung fertig machten, muss ich sehr hoch anrechnen. Bei mir ging nun erstmal gar nichts mehr", erinnert sich Tanja, während Marlene ihr Verdauungs-Bäuerchen macht.

Kurz danach mit Töchterchen auf dem Friedhof: Tanja putzt die Granitsteine am Grab. Sie erinnern an Spielzeug-Bauklötze. "Sehen Sie, ich kann mich doch nicht einfach vor Traurigkeit hängen lassen und verkriechen", sagt sie. "Die Süße hier hat vollen Anspruch, dass ich ihr alle Aufmerksamkeit und Liebe widme. Dass der Alltag funktioniert."

Neben die Gravur mit dem Superman-Logo drapiert Tanja frische Blumen. Hält stille Zwiesprache. Daneben brabbelt zufrieden Marlenchen im tragbaren Kindersitz.

Jetzt drückt wieder ein herzliches Lächeln aus aufgeweckt hellblauen Augen Tanjas Tränen weg. Sie ist überrascht und verlegen. Wie denn "Freies Wort hilft" seinem Vereinsnamen gerecht werden könne - außer damit, dass das Hilfswerk die Kosten begleicht für Janniks Kindergrab, für die Verbrennung, Beisetzung, die Trauerfeier?, wird sie gefragt.

Tanjas Monatseinkommen ist sehr "auf Kante genäht", wie sie sagt. Die 23-Jährige lebt - völlig klaglos - von Hartz IV, Erziehungs- und Wohngeld sowie Unterhaltsvorschuss in ihrer einfach, aber geschmackvoll eingerichteten 76-Quadratmeter-Wohnung in Wernshausen.

"Wünsche?" so fragt sie fast ungläubig: "Na, dass mein Marlenchen hier immer schön gesund bleibt. Dass so viel Geld da ist, dass ich Jannik frische Blumen kaufen kann. Dass ich bald arbeiten kann. Und dass diese Mama hier nicht mal später als Ungelernte durchs Leben laufen muss, sondern ihren Berufsabschluss nachholen kann."

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