Thüringer helfen "Ich stehe am Fahrdamm, da braust der Verkehr"

Mehr als 27 500 Stunden ihrer Freizeit steckten im Vorjahr Ehrenamtliche in das verantwortungsvolle Engagement an 25 Thüringer Verkehrswachten.

 
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Mittendrin die Verkehrswacht Ilm-Kreis mit immer noch aktiven Urgesteinen wie deren Vorsitzendem Dittmar Heyder (65) und Stellvertreter Ulrich Schneider (64).

Wir sprachen mit ihnen über Verkehrserziehung von heute. Und über 40 Jahre Erfahrung: Mit immer mal anderen Bezeichnungen, aber doch dem stets gleichen Anliegen: Schutz von Leben und Gesundheit aller Straßenverkehrsteilnehmer.

Hand aufs Herz: Als am 16. März 2013 Ihre Verkehrswacht Südlicher Ilm-Kreis durch die Fusion mit der Arnstädter Geschichte war, haben Sie auf der Heimfahrt etwa unmäßig Gas gegeben und vor Wut vergessen, sich anzuschnallen?

Ulrich Schneider: Weder noch. Ich habe schließlich schon 1978 bei der Verkehrspolizei, die es zu DDR-Zeiten noch als eigene Abteilung gab, angefangen. Den Spruch "Erst gurten, dann spurten" hatte jeder schon mal aus dem Westfernsehen gehört, wo ja in den 70er Jahren der Kampf gegen Gurtmuffel begann. Ähnlich bei uns. Außerdem bin ich ältester von fünf Geschwistern, da lernt man früh die Erzieherrolle ... Später, mit der eigenen Familie, da habe ich aus dem Anschnallen immer Wettbewerbe gemacht, bevor wir losfuhren. Bei wem hat's zuerst klick gemacht?

Dittmar Heyder: Wir können im Ilm-Kreis nun alle Erfahrungen und Ressourcen bündeln. Die Verkehrsdichte hat extrem zugenommen, also gibt es auch mehr Anforderungen. Und weil Ulrich auch noch ehrenamtlicher Nachwuchstrainer im Ski-Langlauf ist: Da gab's keinen Streit bei der Vorsitzenden-Wahl. Er ist mein Vize, prima Zusammenarbeit!

Ob Sie wohl die erste Strophe dieses alten Kinderliedchens heute noch zu Ende singen könnten? "Ich stehe am Fahrdamm ..."

Ulrich Schneider: ... da braust der Verkehr, ich trau mich nicht rüber, nicht hin und nicht her... äääh...

Dittmar Heyder: ... der Volkspolizist, der es gut mit uns meint, er führt mich hinüber, er ist unser Freund ...

Ulrich Schneider: Das geht fröhlich weiter: Da tuten die Autos, da klingelt die Bahn, spring nicht auf den Wagen und häng dich nicht an.

Das Lied "Der Volkspolizist" kannte man ab dem Kindergartenalter. Sicher wurde damals viel mehr Zeigefinger gehoben, dafür viel weniger im Verkehr gestorben?

Ulrich Schneider: Wurde, klar! Die Mobilität, die Dichte im motorisierten Individualverkehr war ja über Nacht nicht mehr vergleichbar mit der DDR. Damals rollte früh und abends noch der Schichtbus am Betrieb vor, oder man machte zu Feierabend das Kettenschloss vom Fahrrad los.

Nach der Wende haben sich viele schnelle Schlitten zugelegt, je mehr PS, desto toller. Egal ob sie die beherrschten und ob die Straßen dafür geeignet waren. Ich war ja schon aus DDR-Zeiten, als sogenannte Weiße Maus, Schlimmes gewohnt, wenn ich mit meiner MZ zuerst am Unfallort eintraf, in Blut und Schrecken Hilfe leisten und absperren musste.

Aber seit der Wiedervereinigung hatten die Retter und wir eine derart drastische Zunahme von Horrorbildern bei Unfalleinsätzen. Schnellere Autos und Motorräder, schnellere Straßen, Selbstüberschätzungen. Dazu noch Wegfall der DDR-Null-Promille-Vorschrift. Ein Titelblatt der Satirezeitschrift Eulenspiegel zeigte zu dieser Zeit ein Mercedes-Fahrer-Paar beim Ostbesuch. An der Straße Kreuz an Kreuz, dazu die Beifahrerin: "Die sind im Osten doch gar nicht so ungläubig wie es immer heißt!"

Dittmar Heyder: Ja, es häuften sich rasch die tödlichen Unfälle, die typischen Namen junger Insassen auf den Holzkreuzen am Straßenrand: Marco, Ronny, Nancy, Jacqueline ... Auch wenn heute immer mehr Senioren-Unfälle ins Blickfeld rücken, wenn alte Verkehrsteilnehmer trotz ihrer jahrzehntelangen Erfahrung gefährlichen Mist bauen: Die absoluten Zahlen schwerer Unfälle sprechen die stumme Sprache dieser Kreuze mit jungen Namen, Windlichtern, Kunstblumen und Engeln.

Ulrich Schneider: Junge Leute sind nun mal schneller, sind zur Arbeit und Ausbildung häufiger, weiter unterwegs. Mein eigener Sohn jährlich über 30 000 Kilometer.

Dittmar Heyder: Es stieg leider auch der Einfluss von Drogen, legalen wie illegalen. Was die Unfallursachen und die leider viel zu raren Verkehrskontrollen belegen. In der Sache haben wir viel Arbeit vor uns. Beispielsweise mit Aktionen wie "Rallye der Vernunft", wie sie am 11. Oktober wieder an der Forstschule in Gehren startet.

Ulrich Schneider: Es gibt übrigens immer noch die bekannten Verkehrsteilnehmerschulungen, wie sie ja früher hießen. Verkehrsstammtisch klang dann zwar cooler (lacht), aber erst mit dem alten Namen kehrten auch die Teilnehmer zurück.

Auch die Auszeichnungen für unfallfreies Fahren gibt es heute noch. Fast wie einst in Großbetrieben und Wohnbezirken, wo wir ja regelmäßig als Verkehrspolizisten zu Schulungen anrückten. Nur eben, dass wir dies seit der Wende als reines Ehrenamt packen müssen, nicht mehr als "Weiße Mäuse". Solche, die Ältere noch von den Kreuzungen kannten mit den leuchtenden Reguliererstäben (lacht)

... und als jene, die die kleinen Stempel in Teilnehmerheftchen drückten, mit denen es bisweilen strafmindernden Rabatt bei grobem Fehlverhalten gab . ..

Ulrich Schneider: ... manchmal aber auch die Schelte: "Sie? Hätten es doch besser wissen müssen nach all ihren Schulungsteilnahmen!"

Über Ehrenamtliche sagt man gern mal "in ungezählten Stunden geleistete Arbeit" - wirklich?

Dittmar Heyder: Das ganze Drumherum bereits abgezogen. All das, was vor und nach den eigentlichen Aktionen und Einsätzen unserer fünf ausgebildeten Moderatoren von insgesamt 35 Mitgliedern läuft: Weit über 3000 Stunden jährlich! Allein, weil wir uns in 44 Schulen des Ilm-Kreises hineinteilen müssen.

Ulrich Schneider: Musst aber auch dazu sagen, dass wir damit gut 6500 Teilnehmer erreichen. Wozu auch Betreuung von Seminarfacharbeiten, das Aufhängen der "Schule hat begonnen"-Spannbänder, die Präsentation bei Festen und ähnliches gehören.

Noch mal Ost-Vorgeschichte bemüht: Man trichterte NVA-Neulingen beim Drill ein "Lieber tausend tropfen Schweiß als einen Tropfen Blut!"

Ulrich Schneider: Vergleiche hinken. Aber jede noch so große Mühe hat sich doch wohl in unserem Fall gelohnt, wenn dafür die Feuerwehrleute, Sanitäter, Ärzte und unsere früheren Polizeikollegen ... oder Bestatter weniger tote Kinder und andere Opfer nach Unfällen bergen müssen!

Schwer verunglückte Kinder und Jugendliche, an die nur noch die Unfallmarkierungen auf der Straße oder Traueranzeigen erinnern - das setzt Ihnen sicher zu. Sie haben ja neben den eigenen sozusagen Tausende von fremden Enkeln?

Dittmar Heyder: Genau so! Da steckt immer auch das Gefühl drin, es könnten auch deine sein. Also treibt uns das an bei der Präventionsarbeit, um die Kleinen fit gegen Gefahren zu machen. Ich habe selbst sechs Kinder und zwölf Enkel!

Ulrich Schneider: Der Vergleich "Lieber Schweiß als einen Tropfen Blut!" lässt sich auch so übersetzen: Liebe Eltern, Großeltern und Lehrer - lasst bitte eure Kinder im Zweifelsfall den längeren, aber sichereren Schulweg gehen. Und: Lieber einmal mehr kindgerecht auf Gefahren hinweisen als zu wenig. Vor allem: Fahrradhelme auf, auch wenn's heiß ist und der Schweiß tropft!

Erziehung gegenseitig? Ich wollte bei einem Freund und seinem Vierjährigen zur Kita mitfahren, als der Kleine beim Motorstarten brüllt wie von der Tarantel gestochen ...

Dittmar Heyder: ... Klasse, cool, hat's also funktioniert! Wir "hetzen" nämlich unsere Kleinen auf, auch selbst aktiv auf richtiges Verhalten in der Familienkutsche zu achten. Dieses einprägsame Kurz-Video hier (lädt einen Link auf seinen Laptop) macht allen Kids Spaß. Weil sie genau so laut aus ihrem Kindersitz schreien sollen, wenn Papa oder Mama den lebensrettenden Gurt ungenutzt baumeln lassen.

Ihre Kollegen in Nordrhein-Westfalen gingen gegen die Gurtmuffel schon mit echten Schock-Schilderungen vor. Auf Flugblättern mit dem Titel "Die letzte Sekunde".

Ulrich Schneider: Ja, Retter und Unfalleinsatzkräfte der Polizei kennen das leider zu oft im Jahr: Gurtlos, schon bei 80 km/h am Baum. Hände in Todesangst noch am Lenkrad verkrampft, Brust kaputt, Blut aus dem Mund, Schock ... Herzstillstand.

Unsere Lektoren und wir wünschten, es gäbe häufigere Kontrollen, um der Gurtpflicht wieder mehr zu Ehren zu verhelfen. Und den wieder ansteigenden Zahlen tödlicher Unfällen entgegen zu wirken.

Das ist so unbegreiflich wie verrückt: In den neunziger Jahren war die Zahl der Verkehrstoten im Ilm-Kreis pro Jahr nur einstellig - irgendwann wurde krachend wieder aufgeholt ...

Dittmar Heyder: Das wurde irgendwann besser. "Nur" sieben Tote im Jahr 2015 und thüringenweit 115 Tote. Im besagten NRW sogar 522. Und deutschlandweit 3459; so viele Einwohner hat manche Kleinstadt kaum noch!

Als unseren Ehrenamtlichen 2015 die Landesverkehrswacht-Vorsitzende Gudrun Lukin und Landrätin Petra Enders dankend auf die Schultern klopften, tat die Anerkennung sehr gut. Doch es waren überwiegend betagte und zu wenige Schultern, auf die sich die Tätigkeit verteilt.

Ulrich Schneider: ... was uns eigentlich sehr nachdenklich stimmen muss: Die vielen jungen Leutchen, mit denen wir arbeiten, sind ja oft die besten Multiplikatoren. Doch wenn wir unseren Altersdurchschnitt so exakt wie die Unfallzahlen nennen würden: Wir brauchen dringend junges Interesse am aktiven Mittun, wenn in ein paar Jahren der Wachwechsel glücken soll.

Dittmar Heyder: Mit dem eingangs zitierten Pionierliedchen ist es heute nicht mehr so einfach, wie in dessen letzter Strophe: "Und wenn ich mal groß bin, damit Ihr es wisst, dann werde ich auch so ein ...polizist." - Nein, Spaß beiseite...

Ulrich Schneider: Zumal es ja heute nur ums Ehrenamt geht. Und die Polizei hat technisch sowieso das allerwenigste, also fast nichts zur Verkehrserziehung. Alles in Hand der Verkehrswacht. Die Polizei will, völlig anders als damals, strikte Trennung der Aufgaben.

Dittmar Heyder: Aber sie darf trotzdem (lacht) für ihre Fahrrad-Führerscheinausbildung auf euer Jugendverkehrsschulgelände in Langewiesen und auf unseres in Arnstadt!

Interview: Klaus-Ulrich Hubert

Die Verkehrswacht in der Region: Kurse, Veranstaltungen und andere Angebote

Im Jahr 2015 fanden in Thüringen 1570 Veranstaltungen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit statt. 119 100 Teilnehmer wurden erreicht.

Beispielhafte Aktionen , mit denen Verkehrswachten gemeinsam mit dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat sowie der Landesverkehrswacht Thüringen aktiv sind:

"Kind & Verkehr" bei Kita-Elternabenden

Direktansprache & Projektbegleitung mit Kindern von vier bis sechs Jahren zum richtigen Verhalten im Verkehr samt praktischen Übungen

"Kinder im Straßenverkehr" für Vorschulkinder, Erzieherinnen, Familienangehörige

"Fahr Rad ... aber sicher!" und "Fahrradrallye" als Aktionstage aller Altersgruppen rund um das verkehrssichere Fahrrad

"Junge Fahrer" für Fahranfänger von 17 bis 25 Jahren samt Simulatoren-Tests und "Rundkurs junge Fahrer" mit Stationen zu Verkehrssicherheitsaufgaben

"Mobil bleiben, aber sicher": Aktionstage für Auto fahrende Senioren

"Sicher mobil" als Gesprächsrunden für alle Verkehrsteilnehmer jenseits der 50

"Sicher unterwegs mit dem Rollator" mit unerwartet vielen praktischen Tipps für Gehbehinderte

"Sicher in Bus & Bahn" für Vor- und Grundschulkinder

Verkehrsteilnehmerschulung zur Wissensauffrischung rund um das Straßenverkehrsrecht

Erzieherinnen-Fortbildung als zertifizierte Ausbildung für Personal in Kitas

Verkehrssicherheitskurse für jugendliche Straftäter

Fahrradcodierungen zum verbesserten Diebstahlsschutz.

(Quelle: Verkehrswacht Ilm-Kreis)

Regionale Verkehrswachten:

Coburg (09561) 50 90 69

Dolmar (036843) 79210

Hildburghausen (03685) 445249

Ilm-Kreis (03628) 939067

Schmalkalden-Meiningen (03683) 405919

Suhl (03681) 321508

Werra/Rhön (03695) 606210

Landesverkehrswacht Thüringen, St.-Christophorus-Str. 5, 99092 Erfurt (0361) 77 70-360

www.lvw-thueringen.de

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