Thüringer helfen Der harte Weg zurück ins alte Leben

Von Caroline Berthot

Julia Fester ist blind. Ein Tumor raubte der 15-Jährigen das Augenlicht, wenige Wochen nach der Diagnose. Doch die Schülerin aus Zella-Mehlis verzweifelt nicht. Optimistisch und entschlossen geht sie ihr neues Leben an.

 
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Zwei Wochen ist es her, da stand Julia Fester hübsch geschminkt und in einem bunten, glänzenden Kostüm auf der Bühne und tanzte im Kreise der Fünkchen des Mehliser Carneval Clubs vor Hunderten von Leuten zum Faschingsauftakt. Für die junge Zella-Mehliserin eigentlich nichts Besonderes, immerhin tanzt sie schon seit acht Jahren, also ihr halbes Leben, im Karnevalsverein ihrer Heimatstadt. Doch dass die 15-Jährige auch in dieser Saison mit den anderen Mädchen auf der Bühne steht und tanzt, ist für sie einer der größten persönlichen Erfolge überhaupt. Denn vor zehn Monaten erblindete Julia Fester durch einen Hirntumor.

Schockierende Diagnose

Es ist der 27. Dezember 2012, der das Leben, das Julia bis dahin führt, mit einem Schlag beendet: Gerade ist die Schülerin noch mit Freunden Schlittschuh gelaufen. Sandra und Torsten Fester denken an nichts Schlimmes, als sie mit ihrer ältesten Tochter zur Hausärztin gehen. Kopfschmerzen und Schwindel, nun ja, wie schon öfter in den Wochen zuvor. "Wir dachten, dass sie vielleicht Migräne hat oder ähnliches", sagt die Mutter heute. Doch bei den Untersuchungen stellt sich schnell heraus, dass etwas mit Julias Augen nicht in Ordnung ist. Im Suhler Klinikum entdecken die Ärzte schließlich einen drei mal vier Zentimeter großen Tumor in Julias Gehirn. Direkt an der Sehnerv-Kreuzung.

Als Albtraum beschreibt Julias Mutter die niederschmetternde Diagnose, seit der nichts mehr so ist wie früher. Die damals 14-Jährige wird sofort operiert. Doch der Tumor liegt so ungünstig, dass er nicht entfernt werden kann. Auch wenn er ihr Leben nicht unmittelbar bedroht, so verändert der Tumor es doch für alle Zeit. Er schädigt die Sehnerven. Julia sieht von Tag zu Tag schlechter. Seit Mitte Januar ist die Schülerin vollkommen blind.

Zehn Monate sind seitdem vergangen. Zehn Monate, in denen sich Julia an die Dunkelheit um sie herum gewöhnt hat, wie sie sagt. Wenn die 15-Jährige sich durch die Wohnung bewegt, wird das schnell deutlich. Sie weiß genau, wo sie lang muss, wo was steht, worauf sie achten muss. Mit den Händen tastet sich Julia an Wänden, Türen, Möbeln entlang, vorbei an Fotos von ihr und den jüngeren Schwestern Marie und Eva, an einem Wandbild, bunten, lebensgroßen Schattenumrissen von ihr un Eva im Alter von zehn und sieben Jahren. Zeugnisse aus einer Zeit vor dem Tumor, vor der Blindheit, Bilder aus einem anderen Leben.

"Es ist wie es ist"

Denn verändert hat sich seit Januar sehr viel bei Familie Fester. Das fängt damit an, dass die Couch nun in der Küche steht, weil das Wohnzimmer inzwischen Julias Zimmer ist; das war vorher nämlich unterm Dach. Es geht damit weiter, dass die zweijährige Eva inzwischen penibel aufpasst, ja keine Spielsachen herumliegen zu lassen, damit ihre große Schwester nicht darüber stolpert.

Aber vor allem hat sich Julias Alltag verändert. Sie, die mit 14 dabei war, sich langsam von den Eltern zu lösen, die auch mal aufmüpfig war und diskutierte, wie lange sie wegbleiben durfte, braucht nun selbst bei den kleinsten Dingen Hilfe. Ist praktisch nie allein und muss unglaublich viele Dinge neu lernen.

Doch Julia hadert nicht mit ihrem Schicksal, im Gegenteil, sie stellt sich ihm. "Es ist wie es ist und ich kann es nicht ändern, also muss ich das Beste daraus machen", sagt sie, und sie wirkt dabei verblüffend abgeklärt. Anfangs, als sie plötzlich nichts mehr sehen konnte, war das noch nicht so. "Die Erblindung war schon ein ganz schöner Tiefschlag." Aber wie ein Häufchen Elend in der Ecke sitzen und sich bemitleiden, das will sie nicht. Stattdessen bereitet sich Julia auf ihr neues Leben vor.

Noch im Krankenhaus fängt sie an, Blindenschrift zu lernen, "als fest stand, wie das alles wird". Seitdem hat sie jede Woche Unterricht bei einem örtlichen Lehrer für Blindentechnik und bei Spezialisten einer Weimarer Schule. Hier paukt sie Kurzschrift, übt das Lesen. Und seit dem Frühjahr lernt sie auch mit Mobilitätstrainerin Ute Ölschlegel, wie sie sich mit dem Blindenstock im Umfeld des Elternhauses zurechtfindet. Den Weg zur Oma, zu ihren Freundinnen Saskia und Miriam, die in der Nähe wohnen, aber auch den Schulweg, das beherrscht sie schon.

Seit Mai geht Julia wieder in ihre alte Klasse am Zella-Mehliser Gymnasium. "Ich bin froh, dass die Schule das mitmacht, ich bin ja die erste Blinde, die hier lernt." Dem Unterricht nur durch das Hören zu folgen, sich lange Zeit zu konzentrieren, das fällt ihr anfangs schwer. "Inzwischen komme ich gut mit, ich habe Einsen, Zweien und auch ein paar Dreien", erzählt die Zehntklässlerin nicht ohne Stolz. Dank ihrer Integrationsbegleiterin Annett Buchheim, der Ersatzmutti, wie ihre Mutter sie nennt, und auch dank der Unterstützung ihrer Mitschüler und Lehrer ist Julia wieder voll ins Schulleben integriert.

Nach sieben, acht Schulstunden, zusätzlichem Blindenunterricht, dem Tanzen im Karnevalsverein - da ist sie schon deutlich geschafft. Die körperlichen und seelischen Anstrengungen der vergangenen Monate sind nicht spurlos an Julia vorbeigegangen. Wenn sie Ruhe braucht, zieht sie sich in ihr Zimmer zurück, macht den Fernseher an und hört sich ein bisschen durchs Programm - ohne die zusätzlichen Beschreibungen für Sehbehinderte, die mag sie nämlich nicht. Oder sie telefoniert, chattet, skypt oder simst mit Freunden - dank sprachgesteuertem Smartphone kein Problem.

Auch in anderen Belangen ist Julia auf Technik angewiesen. Um den Unterricht aufzeichnen und um mitschreiben zu können, hat ihr die Schule ein Diktiergerät und einen Laptop geborgt. Bei anderen Dingen braucht Julia indes spezielle Hilfsmittel. Wie die Braille-Zeile, eine Art Tastatur, die sie an den Laptop anschließen kann und mit der sie Dokumente in Blindenschrift lesen kann. Daneben hat sie auch eine Blindenschreibmaschine, für Notizen. Nach langem Warten hat die Krankenkasse das alles bezahlt. Will sie aber ihre Hausaufgaben ausdrucken oder einen Text digitalisieren, um ihn sich vom Computer vorlesen zu lassen, dann muss Julia auf gewöhnliche Drucker oder Scanner zurückgreifen. Doch deren Anschaffung übernimmt die Kasse nicht.

Zwar ist das keine riesige Ausgabe, doch es gibt unzählige Dinge, die Blinden das alltägliche Leben erleichtern. So hat Julia auch einen "Pen Friend". Das stiftartige Gerät liest Etiketten aus, die vorher in Kleidungsstücke geklebt wurden - damit Julia weiß, was sie in der Hand hat. "Gelbe Jacke von Oma" tönt es aus dem Pen Friend, als Julia damit über das Etikett fährt. Eine nützliche, aber auch nicht billige Hilfe. Die Etiketten, die beim Waschen immer wieder abgehen, wie Sandra Fester erzählt, kosten einiges. "Es kommen noch viele Hilfsmittel auf Julia zu, die sie einfach brauchen wird", weiß die Mutter. Aber das ist eben auch eine finanzielle Frage.

Ebenso wie das dringend benötigte Training in Lebenspraktischen Fähigkeiten, LPF genannt. Dabei geht es darum, den Alltag trotz Blindheit alleine zu beherrschen. Kochen, die Kleider aus dem Schrank holen, mit der Zahnpasta auf die Zahnbürste treffen, sich ohne Hilfe im Bad fertig machen, das richtige Geld im Portemonnaie finden - viele kleine Sachen, die Julias Leben erschweren, bei denen sie Unterstützung braucht. Die Mädels vom Tanzen samt Trainerin Maren Klett kümmern sich so rührend um sie, dass Julia in den Herbstferien sogar mit im Trainingslager war. Doch sie will und muss die praktischen Fähigkeiten erlernen.

Mit 70 Euro pro Stunde schlägt der LPF-Unterricht zu Buche. Zusätzliche Ausgaben infolge der Erkrankung, der sechsmonatige Ausfall von Sandra Festers Gehalt, weil sie sich daheim um ihre Tochter kümmerte und die ganz normalen Kosten einer fünfköpfigen Familie - die finanzielle Situation der Festers gibt das teure Training zurzeit einfach nicht her. Und die Kassen, das weiß die Familie von anderen Betroffenen, bezahlen die LPF so gut wie nie. Einen Antrag will Sandra Fester dennoch stellen, Julia braucht das Training.

Wenn sie im Sommer ihren 10.- Klasse-Abschluss gemacht hat, wird sie die Schule wahrscheinlich verlassen und wohl auch ihr Elternhaus. Eine grundlegende Ausbildung will sie machen, in der sie die Blindentechnik von der Pike auf lernt, Schreiben, Lesen, Text- und Datenverarbeitung, Bedienen von Geräten. Julia will fit werden fürs Abi, für eine Ausbildung, fürs Berufsleben.

Irgendwann Ski fahren

In Zella-Mehlis und neben der Schule geht das nicht, solche Angebote gibt es zum Beispiel in Würzburg. Julia müsste in ein Internat ziehen und wäre nahezu auf sich alleine gestellt. "Deshalb ist es so wichtig, dass sie selbstständiger wird, dass sie sich auch mal selbst was zu essen machen kann", sagt Sandra Fester. Für sie und ihren Mann würde das Sicherheit bedeuten, zu wissen, dass Julia alleine klarkommt. Und die 15-Jährige selbst wäre auch beruhigter. "Da sind schon Zukunftsängste", sagt sie. "Nicht zu wissen, was kommt, ob man alles schafft." Sich in dem Moment nicht auch noch mit alltäglichen Tücken des Lebens beschäftigen zu müssen, würde eine Last von ihren Schultern nehmen.

Das LPF-Training zu absolvieren, ist daher das nächste Ziel, das sich Julia gesetzt hat. Und beharrlich wie sie ist, wird sie das auch irgendwie erreichen. Dass sie wieder zur Schule geht und beim Fasching mittanzt, hätte vor zehn Monaten auch keiner geglaubt. Doch Julia hat sich durchgebissen. "Wir haben sehr, sehr viel geschafft im letzten Jahr, wir zusammen", sagt sie mit Blick auf ihre Familie. "Das schaffen andere nicht."

Wenn sich Julia was wünschen könnte, nennt sie zwei Dinge: Dass ihr gesundheitlicher Zustand nicht schlechter wird. Und die Abfahrtsski, die sie voriges Jahr zu Weihnachten, also kurz vor der Diagnose, bekommen hat, die würde sie gerne benutzen. Irgendwann.

Bei Julia Fester mit ihrem Eifer und ihrem starken Willen ist das eigentlich nur eine Frage der Zeit.

Unsere Zeitung will Julia Fester auf dem Weg in ihr neues Leben unterstützen. "Freies Wort hilft - Miteinander Füreinander" nimmt deshalb Spenden entgegen. Jeder Cent kommt ohne Abzug der Schülerin zugute.

Konto: 17 05 017 017 / BLZ: 840 500 00 - Bitte Stichwort "Julia" angeben.

Hilfe für Julia - ein Beispiel aus Suhl

Zu den Menschen, die etwas für Julia Fester tun, gehört auch die Suhler Kieferorthopädin Dr. Cornelia K. Müller. "Dies mutige blinde junge Frau braucht Unterstützung für ihre Zukunft", sagt die Ärztin. Ihre Idee: Sie bietet eine spezielle Diagnose an, die von den Krankenkassen nicht bezahlt wird. Das Angebot richtet sich an alle Patienten mit Kopfschmerzen und Ohrgeräuschen ohne klare Ursache. Es umfasst einen Befund sowie die Prüfung eines Zusammenhangs der Beschwerden mit Kiefergelenk und -muskulatur. Patienten zahlen dafür 34 Euro, die komplett an "Freies Wort hilft" für die Weihnachts-Aktion zugunsten von Julia gehen. Termine am heutigen Freitag ab 14 Uhr oder zu einem späteren Zeitpunkt. Info: Praxis Dr. Müller, Lauwetter 33, Suhl. Telefon (0 36 81) 30 22 90.

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