Thüringen Mit 40 Prozent könnten wir leben

Frauen stehen neben einem Hinweisschild zur Maskenpflicht an einer Haltestelle in Bonn. Die Länder fordern vor den Beratungen mit Kanzlerin Merkel strengere Kontaktbeschränkungen, um die hohen Coronazahlen zu senken. Foto: Oliver Berg/dpa

Ja, der Corona-Impfstoff wird kommen. Aber es dauert noch. Wie also bekommen wir wieder mehr Normalität in unseren Alltag? Eine Studie stellt mehrere Szenarien vor.

 
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Die schlechte Nachricht zuerst: Wir müssen vor die Infektionswelle kommen. Also die Fallzahlen und Inzidenzwerte deutlich nach unten bekommen. Sonst ist mehr Normalität in unserem Alltag auch in den kommenden Monaten nicht möglich. Zumindest dann nicht, wenn wir die Schutzmaßnahmen ernst nehmen, die Politik und Wissenschaft für nötig halten. Und die große Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert diese Maßnahmen. Auch nach acht Monaten der Einschnitte.

Doch ein Ende ist nicht absehbar. Bis kurz vor Weihnachten haben sich Bund und Länder sogar noch einmal auf eine Verschärfung der Kontaktbeschränkungen und Schutzmaßnahmen geeinigt. Aus einem einfachen Grund: Die Zahl der Neuansteckungen steigt zwar nicht mehr exponenziell an, aber sie sinkt auch nicht. Und es passiert nun das, was Wissenschaftler schon vor Wochen befüchtet hatten: Die Krankenhäuser laufen voll. Der Anteil der Covid-19-Patienten steigt und erste Kliniken melden, dass ihre Intensivstationen an ihre Kapazitätsgrenze stoßen.

Forscher um die Physikerin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen haben sich vor diesem Hintergrund nun zwei Ideen angeschaut, wie unser Leben in den kommenden Monaten weiter verlaufen könnte. Priesemann ist darauf spezialisiert, Ausbreitungsprozesse – etwa die von Viren – zu simulieren. „Es ist noch keine Impfung zugelassen und es wird dauern, den Impfstoff in der Bevölkerung zu verteilen“, sagte sie kürzlich in einem Gespräch mit Journalisten. „Wir müssen uns also jetzt überlegen, welche Strategie für die nächsten Monate sinnvoll ist.“

Simuliert haben sie und ihre Kollegen vor allem zwei Konzepte: In der ersten Variante würde sich die Gesellschaft darauf fokussieren, dass die Infektionszahlen und letztlich die Zahl der Kranken, die auf Intensivstationen behandelt werden müssen, unter der Kapazitätsgrenze der Kliniken bleibt. Das Problem daran: Wir müssten mit andauernden Einschränkungen auf dem jetzigen Niveau leben, erklären Priesemann und ihre Kollegen. Die Alternative wäre, die Zahlen dauerhaft so weit zu drücken, dass eine verlässliche Kontaktverfolgung möglich ist. Sie ist aus Sicht von Priesemann und ihrem Team der Schlüssel zu mehr Normalität und Freiheiten. Ihr Vorschlag daher: Ein weiterer harter Lockdown, sehr kurz, aber effektiv. Das Ziel dieser Maßnahme sei, die Zahl der Neuinfektionen zu senken, die derzeit bei rund 20 000 pro Tag in Deutschland liegt. Bei einer Reduzierung auf 2000 beispielsweise hätten die Gesundheitsämter wieder eine Chance, Kontakte schnell nachzuvollziehen. Die Reproduktionszahl, die angibt, wie viele Menschen ein Erkrankter ansteckt, liege seit einigen Wochen infolge des Teil-Lockdowns in etwa bei 1. Dieser R-Wert sei im ersten Lockdown zeitweise auf unter 0,7 gedrückt worden.

Länder wie Belgien, Frankreich, Tschechien und die Schweiz hätten das mit strengen Maßnahmen auch in der zweiten Welle geschafft, sagte Priesemann. „Aus unserer Sicht ist es sinnvoll, alle Bausteine zu nehmen, die man hat, um die Zahlen zügig in zwei, drei Wochen wirksam zu senken.“

Wenn das geschafft sei, dann sei auch wieder mehr möglich, so Priesemann. Sie und ihr Team schreiben in ihrer vorab veröffentlichten Studie über langfristige Strategien für ein Leben mit Corona, dass unter diesen Umständen sogar wieder Veranstaltungen mit bis zu 100 Teilnehmern möglich wären. Offene Kneipen und Restaurants sowieso. Immer mit der Maßgabe, dass Menschenansammlungen bei denen das Virus breit gestreut werden könnten, im Anschluss konsequent nachverfolgt würden. Hätten die Gesundheitsämter freie Kapazitäten, dann sei das auch wieder möglich.

Langfristig hält sie ein Leben mit Corona für möglich, wenn die Menschen ihre sozialen Kontakte um 40 Prozent im Vergleich zu ihrem Leben vor der Pandemie reduzieren. Das ist in etwa das, was aktuell durch die Schließung von Gastrionomie und Kultureinrichtungen erreicht wurde. Und wie wir sehen, reicht das nur, um die Fallzahlen stabil zu halten, aber nicht, um sie zu senken.

Wären die Fallzahlen aber erst einmal wieder deutlich gesunken, dann würden die 40 Prozent ausreichen. Diese Zahl war es übrigens auch, die die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten dazu veranlasste, die Maßnahmen für Dezember noch einmal zu verschärfen. So heißt es in der Beschlussvorlage der Regierungschefs: „Das Helmholtz-Institut hat nach jüngsten Erkenntnissen aus den ermittelten Daten feststellen können, dass durch die Maßnahmen, die nun seit drei Wochen in Kraft sind, die Kontakte um 40 Prozent reduziert worden sind. Dies hat das exponentielle Wachstum gebremst.“

Doch aktuell braucht Deutschland mehr. Priesemann und ihr Team kommen in ihren Berechnungen zu dem Ergebnis, dass es mit den von den Regierungschefs nun beschlossenen Maßnahmen ab dem 1. Dezember gelingen könnte, die tägliche Fallzahl wieder auf 2500 zu drücken. Das wäre fast wieder ein Wert, wie wir ihn aus dem Sommer kannten. Eine Woche mehr strenge Kontaktbeschränkung könnte dann zum Durchbruch verhelfen.

Wenn die Gesundheitsämter dann wieder das Infektionsgeschehen nachverfolgen können, ließen sich die 40 Prozent Kontaktreduzierung bereits durch vergleichsweise milde Kontakt-Einschränkungen erreichen, so die Wissenschaftler. Allein die Zahl der Teilnehmer an Großveranstaltungen auf hundert Personen zu beschränken, führe laut einer Studie dazu, dass es in der Bevölkerung rund 35 Prozent weniger Ansteckungen gäbe. Reduziere man die Gruppengrößen auf unter zehn, erreiche man rund 45 Prozent Reduktion. Häufiges Lüften, Abstand halten und Maske tragen könne das Infektionsrisiko zusätzlich verringern, sodass anderweitig mehr Kontakte möglich wären.

Und die Alternative? Würde Deutschland einfach so weitermachen wie in den vergangenen drei Wochen, dann würden aus Sicht der Forscher die Infektionszahlen bei rund 20 000 pro Tag stagnieren. Dann müssten wir uns immer weiter mit Schließungen von bestimmten Teilen des gesellschaftlichen Lebens abfinden. Mit der Folge, dass die Zahl der Toten, der Erkrankten und der Menschen, die sich gerade in Quarantäne befinden, viel, viel höher ausfallen.

Quelle: Sebastian Contreras, Jonas Dehning, Sebastian B. Mohr, F. Paul Spitzner and Viola Priesemann: Towards a long-term control of COVID-19 at low case numbers.

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