Erfurt – Es sind manchmal die kleinen Dinge, die Leben retten können. Dinge, die nicht mal teuer sind. Wie Vierkantschlüssel. Und doch können sie im Fall der Fälle den Unterschied machen zwischen Leben und Tod. Weil sich bei einigen der bisherigen Notfallübungen von Feuerwehrleuten entlang der neue ICE-Trasse von Erfurt nach Süden gezeigt hat, dass diese Vierkantschlüssel den Rettern bisweilen gefehlt haben. Mit ihnen lassen sich zum Beispiel die Türen von Zugtoiletten vom Gang her öffnen. Deshalb ging für die Retter bei solchen Übungen in den entscheidenden Momenten manchmal die Sucherei nach dem Kameraden los, der einen solchen Schlüssel hatte.

Und deshalb gibt es für Feuerwehrleute aus verschiedenen Teilen des Freistaats sowie Frankens am Samstag in Erfurt neben großen und teuren Feuerwehr-Gerätewagen Dutzende und Aberdutzende dieser kleine Vierkantschlüssel. Damit möglichst jeder Feuerwehrmann, der möglicherweise in den nächsten Jahren zu einem Tunneleinsatz muss, selbst einen Vierkantschlüssel hat. „Manchmal passen wichtige Dinge in die Tasche“, sagt Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD). Anders als die Gerätewagen, die von der Deutschen Bahn bezahlt werden, hat die Vierkantschlüssel das Land beschafft.

Diejenigen, die diese Vierkantschlüssel und die Gerätewagen entgegennehmen, stehen unmittelbar davor, eine gewaltige Aufgabe zu übernehmen: Wenn nämlich in etwa vier Wochen die neue ICE-Trasse durch Thüringen vollständig in Betrieb geht, wird das Wirklichkeit, worauf sich viele Feuerwehren im Land seit Jahren vorbereitet haben; zum allergrößten Teil freiwillige Feuerwehren. Sie werden dann diejenigen sein, die im Ernstfall an die Strecke und in deren Tunnel müssen, um Menschen zu retten. Wenn Glück im Spiel ist, aus einem ICE, der wegen eines technischen Defekts liegen geblieben ist. Wenn es ganz schlecht läuft, aus einem ICE, der entgleist ist und brennt.

Was meint: Stand ein freiwilliger Feuerwehrmann eben noch an einer CNC-Maschine oder saß an einem Schreibtisch, kann er eine Stunde später schon mit vielen Verletzten in einem völlig verqualmten und überhitzten Tunnel konfrontiert sein.

Welch große Herausforderung das für die Kameraden bedeutet, ist allen klar, die sich an diesem Tag vor dem Hauptbahnhof in Erfurt versammelt haben und die nach der Übergabe von Autos und Schlüsseln mit seinem Sonderzug – der nicht-bahnuntypisch deutlich verspätet abfahren wird – auf der neue Trasse unterwegs sind. Feuerwehrleute der Freiwilligen Feuerwehr Hildburghausen etwa sprechen ebenso respektvoll über das, was die Einsatzszenarien entlang der Strecke von ihnen verlangen könnten, wie ihre Kameraden aus Neuhaus-Schierschnitz oder Spechtsbrunn. Ein immer wiederkehrendes Motiv in diesen Äußerungen: Wie anders die Rettung von Menschen in einem ICE-Tunnel im Vergleich zum Einsatz etwa in brennenden Wohngebäude organisiert ist.

Bei einem Wohnungsbrand, sagt der Wehrführer von Neuhaus-Schierschnitz, Ronny Eichhorn, gehe ein Trupp in das brennende Gebäude und suche das gesamte Areal nach Personen ab. Wenn jemand gefunden werde, rette der Trupp ihn oder sie.

Beim einem brennenden Zug, der in einem Tunnel liegen bleibt, sagt Eichhorn, sei das Prozedere ein ganz anderes: Zunächst rücke ein Erkundungstrupp vor, der die Lage aufkläre. „Der darf wirklich nicht retten.“ Was auch meint: Kommen die Feuerwehrleute an Verletzten vorbei, müssen sie sie liegen lassen. Was auch psychisch extrem belastend sein kann. „Aber“, sagt der Stadtbrandmeister von Hildburghausen, Marcel Koch, der ebenfalls in dieser Taktik ausgebildet ist, „das muss man so tun. Das ist schwierig, aber es ist erlernbar.“ Andernfalls rette man vielleicht zwei Leben, „und verliert dafür viele andere.“ Anders als bei einem Wohnungsbrand sind bei Zugunglücken mit ICEs in der Regel eben hunderte Menschen betroffen.

Erst wenn dieser Erkundungstrupp sein Mission erfüllt habe, erklären Eichhorn und Koch, komme ein Löschtrupp zum Einsatz, um Feuer zu bekämpfen. „Erst dann beginnt die Bergung der Verletzten“, sagt Eichhorn. Wofür wiederum die Vierkantschlüssel so wichtig sind, weil sich nur mit ihnen auch in die letzte Toilette schauen lässt; ohne, dass die entsprechenden Türen mit Gewalt beziehungsweise schwerer Technik geöffnet werden müssen. Auf den Gerätewagen ist zusätzliche Ausrüstung vorhanden, die ebenfalls speziell für Einsätze am Zug notwendig ist; unter anderem: Beleuchtungstechnik und in der Höhe verstellbare Rettungsplattformen, mit denen Feuerwehrleute von der Erde auf Höhe der Zugfenster gebracht werden können, um durch diese Öffnungen in einen Wagen gelangen zu können.

Wie der Wehrführer von Spechtsbrunn, Jörg Kästner, fühlen sich die künftigen Tunnelretter allerdings trotz der großen Ungewissheit, die jeder Einsatz entlang der neuen ICE-Trasse für sie bedeuten würde, gut darauf vorbereitet. Vor allem ein Lehrgang an einer Feuerwehrakademie in der Schweiz wird von ihnen allen gelobt. Ob alle Pläne im Ernstfall so funktionieren würden wie erdacht, sagt Kästner, müsse sich dann trotzdem noch immer zeigen, sagt Kästner. „Oder ob man dann nicht doch noch mehr Leute braucht.“