Thüringen Bürgen für Kriegsflüchtlinge

Wenn in Thüringen lebende Syrer Angehörige aus dem Bürgerkriegsland zu sich holen wollen, muss jemand für deren Lebensunterhalt bürgen. Menschen, die das schon gemacht haben, sagen, sie täten dies nicht, weil sie zu viel Geld hätten. Sondern aus Humanität.

 
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Alles war vorbereitet. Der Papierkram war erledigt. Die Visa waren erteilt worden. Eine Wohnung war gefunden. Der Flug war gebucht. Mitte Mai hätte die Familie von Mohammed in Deutschland landen sollen. Hätte. Denn dann kam Corona.

Die Rechtsgrundlage

Unabhängig vom Streit über ein eigenes Thüringer Landesaufnahmeprogramm für Flüchtlinge, die in griechischen Lagern festsitzen, gibt es im Freistaat schon seit September 2013 eine sogenannte Landesaufnahmeanordnung, auf deren Grundlage in Thüringen lebende syrische Flüchtlinge unter bestimmten Voraussetzungen Verwandte nach Deutschland nachholen können. "Zu den wesentlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf Grundlage der Aufnahmeanordnung gehört, dass die syrischen Flüchtlinge infolge des Bürgerkriegs aus ihrem Wohnort geflohen sind und sich in einem Anrainerstaat Syriens oder noch in Syrien aufhalten", heißt es dazu vom Migrationsministeriums des Freistaats. Ihre in Deutschland lebenden Verwandten müssten zudem im Besitz eines Aufenthaltstitels sein und sich mindestens seit einem Jahr in Deutschland aufhalten. "Zudem müssen sie jeweils seit mindestens sechs Monaten in Thüringen ihren Hauptwohnsitz oder alleinigen Wohnsitz haben." Außerdem müsse für jeden einzelnen nachzuholenden Verwandten eine Bürgschaft abgegeben werden - entweder von dem Syrer selbst, wenn er wirtschaftlich stark genug ist, oder von Dritten, die ihn unterstützen.

Nach Angaben des Migrationsministeriums sind über dieses Programm bislang etwa 1.200 Visa für Syrer erteilt worden. Man kann davon ausgehen, dass die meisten dieser Visa auch schon für Einreisen benutzt wurden. In wie vielen dieser Fälle die Bürgen für die Lebenshaltungskosten der Menschen einspringen mussten, wird nicht statistisch erfasst.

Mohammed - der nicht wirklich so heißt - sagt heute: "Natürlich ist das schwierig für mich. Aber noch schwieriger ist es für meine Schwester und ihre Kinder." Sie waren es, die Mohammed aus der syrischen Hauptstadt Damaskus hatte zu sich nach Thüringen nachholen wollen. Der Mann seiner Schwester starb in einem syrischen Gefängnis, vermutlich wurde er dort ermordet von den Schergen des syrischen Machthabers Baschar al-Assad.

Umso größer ist die Enttäuschung für Mohammed, dass diese Familienzusammenführung nicht geklappt hat, weil die Vorbereitungen dafür so lange gedauert hatten. Seit Ende 2015 lebt er in Deutschland. Er ist inzwischen gut integriert. Der 24-Jährige macht derzeit eine Ausbildung zum Optiker in Jena. Zwei Jahre lang hatte er darauf hingearbeitet, zumindest seine Schwester und deren drei Kinder aus Syrien herauszuholen, wo seit 2011 ein Bürgerkrieg tobt, der bis heute Hunderttausende Menschen das Leben gekostet hat und der längst zu einem Stellvertreterkrieg nicht-syrischer Kräfte um die Vorherrschaft im Nahen Osten geworden ist.

Ohne zwei andere Menschen allerdings wäre es nie so weit gekommen, dass Mohammeds Schwester und ihre Kinder es im Mai fast nach Thüringen geschafft hätten; legal und ohne sich in einem seeuntüchtigen Boot über das Mittelmeer nach Europa schmuggeln lassen zu müssen. Weshalb auch sie enttäuscht und persönlich betroffen davon sind, dass die Corona-Krise und die damit verbundene Schließung so vieler Grenzen weltweit dafür gesorgt hat, dass der Plan bislang gescheitert ist. Wann er gelingen kann, ist derzeit völlig unklar. Besonders seit die libanesische Hauptstadt Beirut von einer schweren Explosion erschüttert worden ist, die weite Teile des dortigen Hafens schwer beschädigt und die Dauerkrise im Land noch verschärft hat. In Beirut befindet sich die deutsche Botschaft, über die Einreise von Mohammeds Familie abgewickelt werden muss.

Einer dieser zwei Menschen ist Michael Gerner, ein Polizist, der in Ostthüringen wohnt. Nicht nur, dass Mohammed seit zwei Jahren bei ihm und seiner Frau zu Hause wohnt. Nicht nur, dass Gerner dem jungen Syrer und dessen Familie geholfen hat, all den umfangreichen Papierkram zu erledigen, der erledigt werden muss, wenn Menschen wie sie nach Deutschland kommen wollen.

Vor allem bürgt Gerner für die Lebenshaltungskosten von Mohammeds Schwester und ihrer Kinder. Ebenso wie der zweite Mensch, der sich für diese Syrer einsetzt: die Linke-Landtagsabgeordnete Katharina König-Preuss.

Die Bürgschaft, die Gerner und König-Preuss übernehmen, ist ein integraler Bestandteil all der Vorbereitungen, die vor dem geplanten Abflug der Familie nach Deutschland liefen. Denn ohne eine solche - im Fachdeutsch - Verpflichtungserklärung ist alles andere in diesem Zusammenhang nichts wert. Nicht die Wohnung. Nicht die Flugtickets. Weil es ohne eine solche Bürgschaft kein Visum zur Einreise nach Deutschland gibt.

Was sie haben

Das staatliche Kalkül hinter der Forderung nach Bürgschaften ist simpel: Die Familienangehörigen, die syrische Flüchtlinge nachholen, sollen Deutschland möglichst nichts kosten. Deshalb, so heißt es vom Thüringer Migrationsministerium, verpflichten sich die Bürgen, im Bedarfsfall "sämtliche Kosten" zu tragen, "die durch den Aufenthalt der aufzunehmenden Person entstehen"; mit Ausnahme für Kosten, die wegen Krankheit, Schwangerschaft, Geburt, Pflegebedürftigkeit und Behinderung entstehen.

Der Bedarfsfall entsteht immer dann, wenn die Syrer das Geld, das sie etwa, für Miete, Essen, Strom, Schulsachen oder Kleidung brauchen, nicht selbst erarbeiten können oder ihre Ersparnisse dafür nicht ausreichen. Für fünf Jahre müssen die Bürgen für derartige Kosten aufkommen. Die Unterzeichner der Verpflichtungserklärung bürgen und haften, wie Gerner das formuliert, "mit allem", was sie haben.

Weil Mohammed gleich vier Familienangehörige nach Deutschland holen will, ist die Bürgschaftssumme ziemlich hoch. Für insgesamt 120 000 Euro über die fünf Jahre hinweg müssen Gerner und König-Preuss nun im schlimmsten Fall geradestehen. Und zumindest ein Teil der Kosten wird auch tatsächlich anfallen, denn es ist unrealistisch davon auszugehen, dass Mohammeds Schwester sofort einen Job finden oder dass das Lehrlingsgehalt von Mohammed ausreichen wird, den Lebensunterhalt von insgesamt fünf Menschen zu decken.

Gerner ist deshalb froh, dass nicht zuletzt durch Spenden inzwischen ein "solider Teil" der sechsstelligen Summe schon zusammengekommen ist. Die Bereitschaft von Menschen, für die Familienzusammenführung zu spenden, sei ganz unterschiedlich. "Teilweise haben wir Spenden von Menschen bekommen, von denen ich das nicht gedacht hätte", sagt Gerner. Andere seien - anders als gedacht - recht zurückhaltend gewesen mit dem Geldgeben.

Doch obwohl es hier um ziemlich viel Geld geht, haben weder Gerner noch König-Preuss lange überlegt, ob sie die Bürgschaft für die Familie übernehmen sollen. "Für mich war das nie eine Frage des Geldes", sagt Gerner. "Nicht, weil wir zu viel davon hätten, sondern, weil es um Menschen geht, die eine Zukunft brauchen." Er engagiere sich schon mehr als vier Jahre lang in der Flüchtlingshilfe und da sei es für ihn "die logische Konsequenz", dass er Menschen "auf dem einzigen legalen Weg aus einem Bürgerkriegsgebiet nach Deutschland" unterstütze, sagt er.

König-Preuss wiederum hat die Bürgschaft für Mohammeds Familie nicht nur deshalb unterschrieben, weil sie davon überzeugt ist, dass so viele Menschen wie möglich aus dem Bürgerkriegsland raus müssen - und weil sie als Parlamentarierin in einer ziemlich komfortablen finanziellen Situation ist. Letzteres ist ihr ebenso bewusst wie den Behörden, die die Bürgschaften prüfen. "Wir bekommen als Abgeordnete einfach eine sehr hohe Summe Geld", sagt sie. Wenn ein Amt ihren Gehaltsnachweis sehe, "dann hat sich die weitere Prüfung in der Regel schon erledigt".

Vor allem aber habe sie noch nie schlechte Erfahrungen mit Flüchtlingen oder anderen Nicht-Deutschen gemacht, für die sie solche Verpflichtungserklärungen schon unterschrieben habe, sagt König-Preuss. Mohammed ist nämlich nicht der erste Migrant, für den sie bürgt. Sie hat in der Vergangenheit nach eigenen Angaben bereits für einen jungen Mann aus Afghanistan unterschrieben, der seine Frau nachholen wollte, im Fall einer kurdischen Familie und für eine Palästinenserin, die zum Studium nach Deutschland kommen wollte.

"Unter ihnen allen war nie jemand, der die Bürgschaft ausgenutzt hätte", sagt König-Preuss. "Bei allen war das Ziel, aus der Kriegssituation herauszukommen und so schnell wie möglich auf eigenen Beinen zu stehen." Dieses Verhalten der Migranten kenne sie auch aus anderen Fällen aus ihrem privaten Umfeld, bei denen Deutsche für sie gebürgt hätten.

Bei einem Thüringer Verein, der dabei hilft, Menschen aus Syrien in den Freistaat zu holen, warnt man potenzielle Unterstützer trotzdem davor, leichtfertig eine solche Bürgschaft abzugeben - und eben die Hürden zu unterschätzen, die es auch jenseits des Finanziellen gibt, um Flüchtlingen zu helfen.

"Viele stellen sich das leichter vor, als es wirklich ist", sagt die Geschäftsführerin der Thüringer Flüchtlingspaten Syrien, Christa Knorr. Zwar würden von dem Verein tatsächlich auch Menschen beraten, die bereits genau durchgerechnet hätten, ob sie sich die Bürgschaft für einen Flüchtling leisten könnten oder nicht.Doch andere würden häufig unterschätzen, welche Kosten das Leben in Deutschland verursache und seien dann doch überrascht, dass sie eine solche Bürgschaft im Fall der Fälle nicht stemmen können.

Es lähmt sie nicht

Vor allem dann nicht, wenn die Kosten zum Tragen kommen, die nach Angaben von Knorr auch nach Ablauf der fünf Jahre Bürgschaftsdauer vom Bürgschaftsgeber zu zahlen sind: die Abschiebekosten. Sie, sagt Knorr, würden dann anfallen, wenn - aus welchen Gründen auch immer - der legale Aufenthaltstitel der Menschen einmal erlöschen sollte und sie dann nicht freiwillig das Land verließen. Wenn sie das bei den Beratungen erwähne, sagt Knorr, werde vielen Menschen "schon anders".

Mit einem derartigen Worst-Case-Szenario haben sich auch Mohammed, Gerner und König-Preuss beschäftigt. Weil es fahrlässig wäre, sich diese Gedanken nicht zu machen. Aber es lähmt sie nicht.

Derzeit fokussieren sie all ihre Anstrengungen darauf, die Schwester des jungen Mannes und deren drei Kinder trotz des Corona-Chaos überhaupt nach Thüringen zu holen - und weiterhin alles für den Fall vorbereitet zu halten, dass die vier doch noch kurzfristig einreisen dürfen. Gerner telefoniert zum Beispiel alle paar Tage mit dem Auswärtigen Amt, um in Erfahrung zu bringen, wie die Visa erneuert werden können, die inzwischen abgelaufen sind. "Neuvisierung" ist ein Wort, das Gerner ständig benutzt, wenn er über den Fall von Mohammeds Familie redet und dass er inzwischen eigentlich selbst nicht mehr hören kann.

In der Wohnung in Jena, in der Mohammed mit seiner Schwester und deren drei Kindern, leben soll, ist jedenfalls alles für deren Ankunft vorbereitet.

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