Suhl - Auch wenn diesmal kein bedeutender Romanschriftsteller den Provinzschrei literarisch veredelte, die Suhler nahmen die Offerten mit großem Interesse an, ob es sich um süffisante Geschichtchen, knallharte Satire, die große Weltpolitik oder das individuelle Erlebnis Deutschland handelte.

Auf einen Autoren waren viele Besucher besonders gespannt, den langjährigen ehemaligen Nah-Ost-Korrespondenten des ZDF, Ulrich Tilgner. Und sie hätten ihm wohl Löcher in den Bauch fragen wollen, hätte nicht schon kurz nach ihm der nächste Prominente in den Startlöchern gestanden: Wiglaf Droste.

Das ZDF verlassen

Das Kontrastprogramm am Samstagabend - zwischen Afghanistan und dem "Flaschendrehen im Vatikan" - es hätte nicht größer sein können. Es zeigt aber auch, welch große Spannbreite der traditionelle Kunst- und vor allem Literatursommer verträgt und wie diese honoriert wird. Andere Städte können sich eine ganze Herbstlese erlauben, Suhl beschränkt sich auf drei Tage, aber die sind auch nicht ohne.

Tilgner also. 2006 schrieb er ein Buch über seine Erlebnisse im Nahen Osten "Zwischen Krieg und Terror" (erschienen bei Bertelsmann). Das stellte er vor und gemeinsam mit ihm stellte das Publikum fest: Es ist um keinen Deut unaktuell geworden. Im Gegenteil, das, wovon der sachkundige Fernsehjournalist damals schon schrieb, ist heute weiterhin schlimmste Realität.

Voriges Jahr hat er seinen Vertrag beim ZDF als Korrespondent für Afghanistan, Irak und den Iran aufgekündigt. Er nennt es diplomatisch "nicht verlängert". Den Nahen Osten hat er aber nicht aufgekündigt, er arbeitet nun für das Schweizer Fernsehen. Dort, sagt er, habe Information einen höheren Stellenwert, die Schweizer, auch wenn sie weniger fernsehen, seien viel stärker an der Politik interessiert.

Tilgner war seit Anfang der 80-er Jahre für das ZDF im Mittleren und Nahen Osten unterwegs. Er tat dies kompetent und couragiert. Für seine Berichterstattung über den Irak-Krieg erhielt er 2003 den Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis für Fernsehjournalismus, besser kann man in seinem Beruf in Deutschland kaum geadelt werden. Begründung des Trägervereins: Tilgner habe "unter den extremen Bedingungen der Kriegsberichterstattung seine professionelle Qualität und seine journalistische Unabhängigkeit bewahrt und bewiesen."

So ein Mann, dem Berufsethos ein hohes Gut ist, lässt sich nicht ins Handwerk pfuschen. Wie es ihm später widerfahren sollte, als er aus Afghanistan berichtete. Der Umgang mit dem erfahrenen Reporter und seinen Beiträgen in der Mainzer Sendezentrale muss für ihn unerträglich geworden sein. So lange er vom Irak-Krieg berichtet hatte, den die Amerikaner dort führten, war die öffentlich-rechtliche Medienwelt noch einigermaßen heil. Als aber Deutschland dann seine Truppen nach Afghanistan schickte, änderte sich die Darstellungsperspektive schlagartig. Tilgner geriet zwischen die Fronten: zwischen wahrheitsgetreuer Berichterstattung einerseits und dem, was die Bundeswehr andererseits stattdessen gern sehen und hören wollte. Und wahrscheinlich auch die deutsche Politik.

Die Eingriffe der für die Medienarbeit zuständigen Offiziere der Bundeswehr in Potsdam seien ihm zu stark geworden, "ich konnte es nicht mehr verantworten" und meint damit sein weiteres Arbeiten vor Ort für die Fernsehzuschauer. Tilgner erzählt Beispiele, wie er ausgebremst wurde. Wie mehr und mehr Journalisten mit der Bundeswehr aus Deutschland eingeflogen wurden, wie man ihnen Informationen servierte, während seine recherchierten Beträge einen immer geringeren Stellenwert erfuhren. In einem Interview 2008 für die Osnabrücker Zeitung beschrieb der Journalist deprimiert, er habe sich gefühlt, als sei er nur noch für "eine Art journalistischer Folklore zuständig".

Warum Frauen Leggins tragen

Zu Afghanistan findet er deutliche Worte. Das, wofür die Bundeswehr und die anderen ausländischen Truppen 2001 angetreten seien, nämlich mitzuhelfen, die innere Sicherheit herzustellen, sei nicht gelungen. "Die deutschen Soldaten als Aufbauhelfer sind gescheitert. Der Aufbau neuer Strukturen lässt sich nicht militärisch erzwingen". Viele Fragen kamen aus dem Publikum, zur Haltung der Bundesregierung, zum jüngsten Angriff der Bundeswehr, der viele zivile Opfer forderte, auch die nach den Chancen eines Rückzugs. "Ein schrittweiser Rückzug wäre das beste", so Tilgner. Die Rückkehr der Taliban sei das Ergebnis einer gescheiterten Politik. "Terror ist nicht mit militärischen Mitteln bekämpfbar."

Neunzig Minuten Zeitgeschichte mit Ulrich Tilgner, die es in sich hatten, und ob seiner offenen Worte für große Nachdenklichkeit sorgten.

Wiglaf Droste ist auch ein Mann des offenen Wortes. Aber natürlich von ganz anderem Schliff. Wer ihm zuhört, der weiß, das da einer ziemlich respektlos über Gott und die Welt lästert. Doch wer die Titanic überstanden hat, der übersteht noch ganz anderes. Der kann beispielsweise ganz ungenierlich berichten: vom "Flaschendrehen im Vatikan" (gemeint ist die Wahl des Papstes), warum Frauen unbedingt Leggins tragen müssen, welches Grauen sich verbreitet, wenn ein Kabarettist seinen Weinkeller vorzeigt, warum Pakete verabschiedet und nicht verschickt werden, hecheln über ein Land, in dem Bild als Zeitung durchgeht und Friseure als Hirnforscher - als Hairforce One sozusagen - in Silvana Koch-Mehrin eine Margarinesorte vermuten, Nordic Walking als Sport des organisierten Gebrechens disqualifizieren ...

Zwei Stunden Drostes hintersinnige Wortspiele und satirische Polemiken - die Suhler lagen flach vor Lachen und erklatschten sich einen Schwung von Zugaben. Und da fing Droste doch tatsächlich noch zu singen an, wie Bob Dylan ...

Verschmitzten Humor und richtig gute Gesänge erlebten die Zuhörer beim Programm "Jazz, Lyrik, Prosa", eine Erfindung von Werner Sellhorn, die seit 45 Jahren. in der ostdeutschen Kulturlandschaft Kult ist. Wer erinnert sich nicht an die besten Zeiten mit dem "Flaschenzug" oder dem "Hasen im Rausch"? Die 296. Veranstaltung und die siebte Aufführung des jüngsten Programms "Dass ich nicht vergess, Ihnen zu erzählen - jiddische Lieder, Geschichten, Anekdoten und Witze" fand am Freitag zur spätabendlichen Einstimmung auf den Provinzschrei eine erfreute, aufgekratzte Zuhörerschar. Die Provinzschrei-Organisatoren waren lange hinter der Truppe her und haben sich selbst auch einen Wunsch mit deren Gastspiel erfüllt.

Sellhorn, der im Frühjahr verstarb, gab diesem Programm noch das Gepräge. Und sein Sohn, der Sänger Karsten Troyke, lebt die jiddischen Lieder geradezu. Zusammen mit ihm standen die bekannte Schauspielerin Walfriede Schmitt (in den frühen Siebzigern am Meininger Theater engagiert) das ukrainische Trio "Scho" und der fabelhafte Jazz-Klarinettist Jürgen Kupke auf der Bühne im Simsonsaal des CCS. Jüdischer Humor, umwerfend komisch und zum Weinen, dazu Klassiker wie "Bei mir bist du scheen" oder "Donaj" (Dos Kelbl). Da fragen wir doch lieber nicht nach deren Ursprung, und Entstehungszeit, sonst würden wir wirklich traurig werden ... Seite 19