Zella-Mehlis - Es ist fast noch druckfrisch. Und nur 125 Seiten stark. "Gibt es Dich noch - Enrico Spoon?" So heißt der Titel des neuen Werkes von Walter Kaufmann. Es enthält Geschichten über Menschen und Orte weltweit. Vollendet kurz vor seinem 95. Geburtstag. Satte 18 Euro kostet das schmale Bändchen. Vielleicht ein bisschen teuer, möchte man meinen. Zumindest dann, wenn man oberflächlich und voreilig urteilt. Wer das Buch erwirbt, wird eines besseren belehrt.

Es enthält insgesamt 54 Kurzgeschichten in klarer, unverschnörkelter und mitreißender Sprache: Prosa-Miniaturen über zufällige und spannende Begegnungen mit ganz unterschiedlichen Menschen zu ganz unterschiedlichen Zeiten und an ganz unterschiedlichen Orten. Angefangen 1933 in Duisburg mit Käte, der Hausangestellten, zu der sich das damals neun Jahre junge und einsame Kind Walter Kaufmann ins Bett legen durfte. Bis hin zur Begegnung mit Philipp Adams 2013 im australischen Sydney.

Die 40 Gäste, die in die Stadtbibliothek Zella-Mehlis gekommen waren, erleben darüber hinaus gleich zwei Premieren. Es ist die erste Lesung aus Kaufmanns neuem Buch. Und: Es ist das auch das erste Mal, dass der bekannte Südthüringer Schriftsteller Landolf Scherzer aus Suhl einen Autorenkollegen vorstellt, "dessen Leben viel abenteuerlicher war als bei mir". Als Landarbeiter und Obstpflücker, als Kriegsfreiwilliger in der Armee, als Fotograf und Werftarbeiter, auf einen Schlachthof und als Seemann habe Kaufmann während seiner Zeit in Australien gearbeitet. In seinen "wunderbaren Miniatur-Geschichten steht auf anderthalb Seiten manchmal mehr drin als in einem Roman", so Scherzer.

Professor und Picasso

Und er klärt das Publikum darüber auf, warum Kaufmann die beiden Spitznamen "Professor" und "Picasso" bekommen hat. Professor deshalb, weil Kaufmann als Seemann mit aufgesetzter Brille im Hafen umherirrte und einen Dampfer suchte, auf dem er anheuern wollte. Als er einen Matrosen direkt vor dem Dampfer fragte, wo sein Schiff liege, entgegnete dieser: "Professor, was suchst du hier? Wie kann es sein dass einer mit vier Augen unseren Schornstein nicht sieht."

Und den Spitznamen Picasso erhielt Kaufmann, als er zu DDR-Zeiten mit dem Handelsfrachter "Karl-Marx-Stadt" von Rostock nach Havanna unterwegs war und an fünf bis sechs Tagen von früh bis abends den Schornstein bunt gepinselt hat. Auch diese Geschichten hat der Schriftsteller in seinem neuesten Werk zusammengetragen. Sie spiegeln sein ebenso schicksalhaftes wie abenteuerliches und bewegtes Leben wieder, das er in Nazi-Deutschland, in Großbritannien und Australien, in der DDR, im vereinten Deutschland und auf seinen Reisen in alle Welt erlebt hat.

Walter Kaufmann wird mit dem Namen Jizchak Schmeidler am 19. Januar 1924 als Sohn einer jüdischen Verkäuferin in Berlin geboren. Er wächst ab 1926 in einer jüdischen Rechtsanwaltsfamilie in Duisburg auf, die ihn adoptiert hat und später im KZ Auschwitz von den Nazis ermordet wird, was Kaufmann erst nach dem Krieg und seiner Rückkehr nach Ostberlin erfährt. Er selbst flüchtet 1939 mit dem letzten jüdischen Kindertransport über die Niederlande nach Großbritannien. Dort wird er als "feindlicher Ausländer" interniert und 1940 mit dem Schiff nach Australien gebracht. 1957 siedelt er in die DDR über, behält aber die australische Staatsbürgerschaft. Er ist Mitglied im Deutschen Schriftstellerverband, gehört ab 1975 dem PEN-Zentrum der DDR an, dessen Generalsekretär er von 1985 bis nach 1993 war.

Ein Herz für Obdachlose

Den Titel "Gibt es dich noch - Enrico Spoon?" verdankt Kaufmanns neuestes Buch einer Begegnung mit einem Obdachlosen 2002 in Rio de Janeiro. Dieser schlich in einem Restaurant immer mit einem Holzlöffel zwischen den Tischen herum und bekam von den Gästen immer mal eine Kartoffel, eine Mohrrübe oder ein Fleisch darauf gelegt. Deswegen nannten sie ihn Enrico Spoon. Als der Kellner ihn vor die Tür warf, sagten die Gäste und auch Kaufmann "Have a heart, man. For Christ sake, have a heart!" (Habt ein Herz, um Gottes Willen, habt ein Herz für ihn!) Und so bekam der Obdachlose doch noch zwei Kartoffeln. Es sind solche kleine Geschichten, die Walter Kaufmann in Windeseile zu Papier bringt. Abends beginnt er mit dem Einstieg, am nächsten Tag schreibt er sie zu Ende. "Bei mir sind die Geschichten am besten, die mir am schnellsten von der Hand gehen", sagt Kaufmann.

Im Schreiben verarbeitet

An seinem ersten Buch "Stimmen im Sturm" hat er vier Jahre lang geschrieben. Es handelt von einer jüdischen Familie und von Widerstandskämpfern. Es sei 1953 zum ersten Mal erschienen und erscheine heute immer noch, sagt Kaufmann. "Ich bin im Alter von 16 bis 18 Jahren zur Schriftstellerei gekommen, aufgrund der bitteren Erlebnisse während der Nazi-Zeit." Davon habe er sich frei schreiben müssen.

"Die Erfahrungen mit meinen Eltern lassen mich bis heute nicht los", sagt Kaufmann. "Ich bin geprägt dadurch, Auschwitz ist für mich ein Fanal." Vor diesem Hintergrund sei heute das Erstarken rechtsextremen, nationalistischen und rassischen Gedankenguts zutiefst erschreckend und weit mehr als nur besorgniserregend.