Jamie beugt sich diesem Rollenbild zunächst, will keine Probleme verursachen. Doch innerlich wächst der Druck. Die Zerrissenheit. Das Geschlecht, das ihm bei der Geburt zugewiesen wurde, passt einfach nicht zu seiner Identität. "Ich habe gespürt, dass ich da was mache, das mir nicht guttut und was ich nicht bin. Ich hatte das Gefühl, ich würde mein Leben lang schauspielern und das war sehr schwierig."
Über drei Jahre lebt Jamie mit diesem Gefühl, spricht mit niemandem darüber und vertraut sich dann doch der Mutter an. Da ist Jamie 15 Jahre alt. Drei Stunden lang sprechen die beiden intensiv über Jamies Gefühle. Es fließen viele Tränen.
"Meine Mama ist für mich da"
"Immer, wenn ich über diesen Moment nachdenke, muss ich selbst wieder weinen, weil es ein sehr emotionaler Moment war. Ich habe damals gemerkt: Egal, welchen Weg ich gehe" - Jamie bricht ab und muss seine Tränen zurückhalten. "Egal, welche Entscheidung ich für mein Leben treffe, meine Mama ist für mich da. Egal, wie schwer es ist, sie geht mit mir diesen Weg."
In einer Zeit, in der andere in seinem Alter feiern, ihren Hobbys nachgehen und sich verlieben, beginnt Jamies Weg zu sich selbst. Er macht eine psychologische Begleittherapie, lässt Gutachten erstellen, startet eine Hormontherapie, lässt sich die weiblichen Brustdrüsen entfernen (Mastektomie) und ändert seinen Geschlechtseintrag.
2018 beginnt er, in sozialen Medien aktiv zu werden. Mittlerweile folgen dem 21-Jährigen über 80.000 Menschen auf Instagram, fast doppelt so viele auf TikTok. Als Content Creator, früher gerne "Influencer" genannt, spricht Jamie seit einiger Zeit offen über sein Leben, gibt Workshops und beantwortet Fragen von Jugendlichen oder ihren Eltern.
"Ich bekomme ständig Nachrichten von Menschen, die es durch meine Beiträge geschafft haben, sich zu outen oder die endlich wissen, wer sie sind." An Hassnachrichten habe er sich mittlerweile gewöhnt. Auch das ist ein Zeichen, wie wohl sich Jamie in seinem Körper mittlerweile fühlt. Der junge Mann gibt sich im Interview aufgeschlossen, selbstbewusst und lacht viel.
"Es geht mir heute sehr gut. Ich habe das Gefühl, angekommen zu sein. Ich bin der einzige Mensch, mit dem ich morgens aufstehen muss. Ich bin der einzige Mensch, der sein Leben lang mit mir klarkommen muss. Deswegen ist es so wichtig, seinen eigenen Weg zu gehen."
"Ein Weg, den man sich nicht freiwillig aussucht"
Seine Gefühle drückt der Brandenburger, der seit einem halben Jahr in Köln lebt, in der Musik aus, schreibt Songs und spielt Gitarre. Außerdem geht er bis zu sechsmal in der Woche ins Fitnessstudio. Seinen Followern zeigt er sich dabei oft oberkörperfrei. Denn er sei stolz auf seinen männlichen Körper - auch auf seine Narben im Brustbereich.
Das neue Selbstbestimmungsgesetz sei ein Schritt in die richtige Richtung, findet Jamie. Doch aus konservativen Kreisen kommt auch Kritik. Die Vize-Unionsfraktionsvorsitzende Dorothee Bär (CSU) fürchtet etwa, junge Menschen könnten zu geschlechtsangleichenden Maßnahmen geradezu ermutigt werden. Dem hält Jamie seine eigene Geschichte entgegen.
"Wenn ich den Weg nicht hätte gehen müssen, dann wäre ich ihn nicht gegangen. Das ist ein Weg, den man sich nicht freiwillig aussucht. Das war emotional anstrengend. Es war psychisch anstrengend. Es war sozial anstrengend. Das hat so viel mit mir gemacht. Diesen Weg wünsche ich niemandem."
Es sei zwar "ein unfassbar schönes Gefühl", bei sich selbst anzukommen. "Aber den Weg dorthin wäre ich niemals gegangen, wenn es nur eine Phase gewesen wäre. So was macht man nicht für Aufmerksamkeit." Jamie wünscht sich von der Gesellschaft generell mehr Akzeptanz und Toleranz. "Das Wichtigste ist, dass jeder glücklich ist und seinen Weg gehen kann. Warum muss immer alles kommentiert und kritisiert werden?"