Nicht mal mehr auf die Buchmacher ist Verlass in diesen Zeiten. Auf der Liste der zwanzig (!) aussichtsreichsten Kandidaten auf den diesjährigen Literaturnobelpreis, die das britische Wettbüro "Ladbrokes" immer wieder gerne in der Öffentlichkeit platziert, taucht der Name Patrick Modiano überhaupt nicht auf. "Man kann gut eines seiner Bücher am Nachmittag lesen, zu Abend essen und ein weiteres Buch am Abend lesen", sagte Peter Englund, Sprecher der Schwedischen Akademie, die die Auszeichnung vergibt. Auch mal eine schöne Begründung.

Aber nicht zu voreilig. Modianos Roman "Familienstammbuch" aus dem Jahr 1977 beginnt programmatisch mit einem Zitat des französischen Dichters René Char: "Leben heißt, beharrlich einer Erinnerung nachzuspüren." Das Leben eines Dichters aber heißt in erster Linie Schreiben. Und Schreiben heißt deshalb bei Patrick Modiano, beharrlich einer Erinnerung nachzuspüren. Thomas Mann hat den Erzähler einmal als den "raunenden Beschwörer des Imperfekts" bezeichnet. Ein solcher Beschwörer ist der 69-jährige Franzose. Das mag mancher altmodisch finden. Als Erzählhaltung ist es jedoch zeitlos.

"Ich versuche bei den Menschen und den Dingen die Schicht des Vergessens zu durchstoßen", hat der öffentlichkeitsscheue Autor in einem seiner wenigen Interviews gesagt. Und so kreisen etliche der Bücher des 1945 - also kurz nach Kriegsende - geborenen Mannes um die Nachkriegsjahre, während der er eine offenbar nicht sehr glückliche Kindheit und Jugend verbrachte, die unter anderem von dem frühen Tod seines zehnjährigen Bruders geprägt war. Auch die Zeit der nazideutschen Besetzung von Paris ist eines jener Themen, die Modiano vor dem Vergessen zu bewahren sucht. Sein Vater, ein jüdischer Kaufmann, lebte damals unter falschem Namen in einem Versteck. Die Beziehung zu ihm prägt stark die raunende Beschwörung der Vergangenheit, die durch die Erzählung, die in der Literatur eine neue - und bleibende - Gegenwärtigkeit erfährt. "Es geht immer um Erinnerung und Vergangenheit. Es geht darum, was die Zeit mit den Menschen macht und ob man Verlorenes wiedergewinnen kann", hat seine Lektorin Tatjana Michaelis vom Hanser-Verlag gestern auf der Frankfurter Buchmesse gesagt. Es gibt weitaus weniger spannende literarische Ansätze.

Stilistisch ist Modianos recht umfangreiches Prosawerk von Knappheit geprägt (eine Eigenschaft, das es mit den Büchern der Vorjahrespreisträgerin Alice Munro teilt) - und von äußerster Einfachheit bis Kargheit der Sprache. Für den deutschen Sprachraum ist es von keinem Geringeren als Peter Handke entdeckt worden (der ironischerweise in der "Ladbrokes"-Liste der zwanzig aussichtsreichsten Anwärter durchaus auftaucht). Der Österreicher hat Modianos Roman "Eine Jugend" 1985 ins Deutsche übersetzt.

Hierzulande ist Patrick Modiano gleichwohl zwar von der Kritik anerkannt, einem breiten Publikum aber nahezu unbekannt. Das dürfte sich mit der Preisvergabe nun ändern. Peter Englund hat die Werke des Franzosen nicht nur als tauglich für vor und nach dem Abendessen gepriesen, sondern auch gesagt: "Es sind sehr elegante Bücher, aber sie sind nicht schwierig zu lesen." Einer angenehmen Herbst- und Winterlektüre steht also nichts mehr im Wege.