Meiningen. Es war im Radio zu hören: Eine neue Richtlinie des Thüringer Kultusministeriums besage, dass in den Grundschulen das Fach Sport abgeschafft und die Ausbildung nur noch im Fach Ästhetik/Bewegung erfolgen solle. „Da ist nichts dran. Definitiv“, kontert Schulamtsleiter Wolfgang Diez.

Wolfgang Diez bemüht zwei wesentliche Erkenntnisse der Hirnforschung – „Erkenntnisse, die wir in den Schulen nutzen wollen“. Zum einen durch gemeinsamen Unterricht der Klassen eins und zwei. „Kinder lernen von Kindern, das ist der Tenor. Sie werden in die Lehrerrolle versetzt, ihr Selbstwertgefühl steigt. Damit werden sie besser auf das, was in den späteren Schuljahren auf sie zukommt, vorbereitet. Denn was man selbst erklärt, bleibt zu 95 Prozent im Gedächtnis haften, so die Hirnforscher. Thüringen ist bei der Umsetzung dieser Erfahrungen auf gutem Wege.“

Zum anderen, so die Wissenschaftler, bildet sich das Gehirn durch Bewegung weiter. „Mit diesen Erfahrungen im Hinterkopf haben wir das Schulprojekt ,Tägliche Sportstunde’ ins Leben gerufen“, resümiert Diez. Jeweils die ersten Klassen der Meininger Grundschulen „Ludwig Chronegk“ und „Am Pulverrasen“ sowie die der Grundschulen „Am Hahnberg“ Oepfershausen, „Am Himmelreich“ Suhl und „Haseltal“ Steinbach-Hallenberg sind vier Jahre lang in das Projekt eingebunden. „Selbst die Kinder, die motorisch nicht so begabt sind, zeigen sich begeistert“, so Wolfgang Diez.

Auch wenn das Projekt mit „Tägliche Sportstunde“ überschrieben ist: „Uns geht es nicht um das Mehr an Sport, sondern um das Ausnutzen der Ergebnisse der Hirnforschung. Mehr Bewegung bringt mehr Spaß am Lernen, bessere Lernergebnisse, bessere Hirnbildung. Die Konzentration steigt: Die Kinder sind pfiffiger, mit denen kann man auch am Nachmittag noch Matheaufgaben lösen. Während jene, die sich weniger bewegen, am Nachmittag Ermüdungserscheinungen zeigen.“

„Toben“ als Programm

Wolfgang Diez erinnert sich an die eigene Kindheit. „Wir sind auf Bäume geklettert, herumgetobt nach dem Unterricht. Wir sind noch auf den Kirschbaum rauf, bis oben, wo die Kirschen am schwarzesten sind. Heute aber sieht man kaum mehr ein Kind, das allein spielt, ohne dass die Eltern aufpassen. Oder die Kinder sitzen vor dem Computer, sehen fern. Bewegen sich also definitiv weniger als noch unsere Generation.“

Die „Tägliche Sportstunde“ helfe nun, dass beide Hirnhälften miteinander vernetzt werden. „Dort üben die Mädchen und Jungen sogenannte Zirkustechniken wie Jonglieren, Balancieren. Kinder, so zeigt die Erfahrung, die das gut können, sind auch gut in Mathematik.“ Auch Eltern und Lehrer sind begeistert ob dieser Resultate, wie der Schulamtsleiter aus der Praxis weiß.

„Klares“ Jein

Wäre es da nicht angebracht, das Schulprojekt auf alle Grundschulen des Schulamtsbezirkes auszuweiten? Jein, so Wolfgang Diez. „Jede Schule hat eine sogenannte Stundentafel, auf der die Unterrichtsstunden pro Jahrgang notiert sind. Sie kann also nicht einfach mehr Stunden festlegen. Denn daran hängen wiederum Lehrer-Stunden, die vergütet werden müssen und eventuell zusätzliche Lehrerstellen. Durchschnittlich müsste pro Schule ein Lehrer mehr eingestellt werden, um den Bedarf zu decken. Immerhin sind das dann im Schulamtsbereich 29 neue Stellen! Die sind aber nicht da.“

Für das Schulprojekt, das das Land Thüringen fördert, schon. „Es ist gut, einfach mal zu sehen, was passiert, wenn die Kinder fünf Stunden Sport in der Woche – eine Stunde pro Tag – bekommen.“

Stirbt danach also der gute Ansatz an fehlenden Finanzen und Lehrern? „Nein, keinesfalls. Die so gewonnenen Erfahrungen wollen wir umsetzen in allen Grundschulen – jedoch in einer etwas anderen Form. Während der ganz normale Sportunterricht weiterläuft – ohne Kürzungen –, soll das Projekt modifiziert als Bewegungs-Programm weitergeführt werden. Wir bilden derzeit die anderen Lehrer, die nicht in das Schulprojekt eingebunden sind, weiter. Sie lernen, wie sie zum Beispiel den Mathematik- oder Deutschunterricht mit Bewegung bereichern können.“

Wolfgang Diez spricht unter anderem von Laufdiktaten, bei denen ein Text an der Tafel steht. Um ihn lesen zu können, müssen die Kinder zur Tafel laufen. „Je nachdem, wie viele Textzeilen sie sich dabei merken, laufen sie mehr oder weniger oft hin und her und zurück zu ihrem Platz, um dann die Worte aufzuschreiben. Bewegung und Merkübung in einem – das bringt ebensolche Erfolge wie die ,Tägliche Sportstunde’. In den Grundschulen jedenfalls laufen wir damit offene Türen ein.“ Fachspezifisch soll die Bewegungs-Idee wie ein roter Faden auch durch alle anderen Fächer laufen.

Vorreiter

Nicht ohne Stolz betont Wolfgang Diez: „Wir sind das erste Schulamt in Thüringen, das das Projekt in die Praxis eingeführt hat. Es wird auch nicht vorzeitig auslaufen, das ist eine Fehlinterpretation unserer Aktivitäten für mehr Bewegung. Denn ich selbst habe mich sehr bemüht um dieses Projekt. Ich bin ein sportlicher Mensch, ging einst in Meiningen sogar auf die Sportschule.“

Fazit: „Wir führen ,mehr Bewegung’ auf jeden Fall weiter, auch wenn es die zusätzlichen Stunden im Rahmen des Projektes nach vier Jahren nicht mehr gibt. Andere Projekte sind nach deren Auslaufen gescheitert, vergessen, konnten wegen fehlender Mittel nicht in die Breite. Mehr Bewegung aber können wir ohne zusätzliche Gelder gut in den gesamten Unterricht einbauen – ,nix’ kann ich allen geben!“ Kerstin Hädicke